Der Terminkalender füllt sich. Vorsichtig werden wieder Pläne gemacht. Für Veranstaltungen, Treffen und Projekte, für kleine oder größere Feste oder Reisen. Mehr als drei Monate lang waren wir eher damit beschäftigt, Absagen zu organisieren, vielleicht mit digitalen Angeboten manche Lücke zu schließen. Inzwischen aber bewegen sich viele wieder mit einem Gefühl der langsam wachsenden Sicherheit durch die Zeit. Weiterhin achtsam und umsichtig, zugleich aber routinierter im Umgang mit dem, was nötig und möglich ist. Für möglich halten wir jetzt also auch wieder das Planen im Blick auf die kommenden Wochen und Monate. Das ist gut – auch deshalb, weil sich das Planen verändert hat.
So jedenfalls erlebe ich es bei mir: Termine schreibe ich neuerdings mit Bleistift in den Kalender (ja, ich liebe meinen 18-Monate-Papierkalender, der immer im Juli beginnt). Nicht unentschieden – aber ich versuche genauer auf das zu schauen, was auch bei wechselnden Umständen nach der Maßgabe von Sinn und Beziehungen bedeutsam bleibt.
Skeptischer bin ich gegenüber Lösungs- und Planungsstrategien, die möglichst genau und konkret etwas durchspielen und fassbar machen, was schon in wenigen Tagen irrelevant sein könnte, weil wichtige Voraussetzungen dafür nicht mehr gegeben sind.
Zeit lassen für den Heilungsprozess
Und mein Denken über die Bedeutung von Zeit ist anders geworden: Zeit, die Menschen brauchen, um neue Erfahrungen zu sammeln und der Forschung Zeit zu lassen zum Beobachten, Sammeln, Erproben, Auswerten, Verstehen (diverse Irrtümer und Widersprüche inbegriffen), widersetzt sich der Beschleunigungslogik. Das ist manchmal schwer auszuhalten. Aber für den Heilungsprozess unverzichtbar.
Für den kreativen Prozess der Ausgestaltung etwa von Computerprogrammen mag es hilfreich sein, lösungsorientiert und beschleunigt an Modellen zu schrauben, bis alles passt. Aber wie sehr lehren uns die Erfahrungen dieser Monate, dass unsere Lebensstrategien noch von ganz anderen Einflüssen bestimmt werden. Und Unverfügbares ist immer mit im Spiel.
In einem Interview mit Richard David Precht lese ich diese Tage:
„Die Problemlösungsarbeit des Menschen wird dramatisch überschätzt” . Der Philosoph gibt zu bedenken, dass der Mensch – im Unterschied zur Maschine – von vielfältigen Emotionen und Gedanken angetrieben wird. Und er kommt zu dem Schluss: “Wir sind keine defizitären Rechner, sondern empfindsame, verletzliche und resonanzbedürftige Wesen, die sich ihr Leben erzählen, um es mit Sinn auszustatten.“
Barmherziger Umgang mit Unzulänglichkeiten
Was wir Menschen, hoffentlich besser als Programme und Maschinen, können, ist der barmherzige Umgang mit Unzulänglichkeiten, verbunden mit einem wachsenden Erfahrungsschatz. In der Digitalisierung kommt es auf die immer präzisiere Optimierung von Aufgaben und Abläufen an und die dabei angewandten Techniken zur Entwicklung möglicher Lösungen brauchen eine frühe Konkretion für Probeläufe und gezielte Nachbesserungen.
Das menschliche Zusammenleben aber tickt anders. Nicht immer hilft die möglichst genaue Fokussierung auf ein Modell und Ziel hin. Denn Ziele und Herausforderungen verändern sich mitunter überraschend schnell. Mit unserem Bedürfnis, Dinge zu verstehen und zu gestalten, brauchen wir offene Sinne für das, was sich in der nie ganz sicher vorhersehbaren Interaktion von Menschen immer wieder neu ergibt und offenbart, als klärend oder trügerisch wahrgenommen wird. Und unsere Hoffnung, auch in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben, setzt voraus, dass wir Schwachstellen, Brüche, Irrtümer und das “Noch-nicht-Klare” mit integrieren können.
Nicht immer entsteht dabei gleich etwas Fertiges und Optimales – aber vielleicht etwas Belastbares oder Tragendes, etwas Verbindendes und Bewegliches.
Erzählfähigkeit hilft beim Entdecken von Zusammenhängen
Empfindsam, verletzlich, resonanzbedürftig – so beschaffene Wesen suchen nach Sinn und sie nutzen dabei ihre Erzählfähigkeit. Denn diese hilft, Zusammenhänge zu entdecken, sich der Beweglichkeit und Verwandlungskraft zu vergewissern, die in allem wohnt, und daraus Hoffnung und Freiheit für besonnene und mutige Entscheidungen zu schöpfen.
Wer so lebt, plant anders: mit Vertrauen und Flexibilität, mit Respekt vor dem Unverfügbaren und mit Gespür für das überraschend Mögliche. Vielleicht hat das weniger “Methode” – dafür jedoch umso mehr die Chance in sich, gerade im Unvorhersehbaren intuitiv und kreativ zu erkennen und mitzugestalten, was in einem tiefer und weiter gefassten Sinne bleibt, kommt und geht.
Susanne Brandt / (Gedanken zu Corona im Juli)
Quelle zu dem zitierten Beitrag von R.D. Precht:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/richard-david-precht-ueber-kuenstliche-
intelligenz-leben.2162.de.html?dram:article_id=478933