„Grünes Glas vor Augen“ von Susanne Brandt
Manchmal ist Jakob ein Zauberer. Er kann aus weggeworfenen Dingen ganz unverhofft etwas Neues entstehen lassen. Eine Krone zum Beispiel. Mit einem sicheren Gespür für Kostbarkeiten hatte er neulich nach dem Sternebasteln einen gelben Zickzackstreifen von der Kehrschaufel gefischt. Der zerknickte Papierrest ließ sich gerade um seinen kleinen Finger wickeln. „Eine Prinzessin“, stellte Jakob zufrieden fest, als er das gekrönte Teil an seiner Hand betrachtete. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Eine Prinzessin, die gerade aus ihrem Gefängnis befreit wurde.“ Damals fragte ich nicht, warum die Prinzessin denn im Gefängnis war. Ich kenne Jakob. Ich weiß, dass er auf solche Fragen immer mit einer langen Geschichte antwortet. Aber ich habe nicht immer Zeit für lange Geschichten. Manchmal allerdings…
Eigentlich hatte ich auch gestern keine Zeit für lange Geschichten. Wir waren eine Runde mit dem Hund unterwegs, und weil die Frühlingssonne das erste Mal in diesem Jahr richtig warm schien, zog ich meinen Anorak aus und legte ihn in das noch feuchte Gras. „Komm, wir spielen Sommer!“ Mit einer einladenden Geste lud ich Jakob dazu ein, auf dem ausgebreiteten Anorak in der Sonne Platz zu nehmen. So machen wir das im Sommer gern: ein kurzer Gang mit dem Hund bis runter zum Ufer der Warnow und zwischendurch für zehn Minuten ein kleines Picknick auf der Wiese. Der Apfelbaum steht nebenan. Jakob aber wollte sich an diesem Frühlingstag nicht gleich zu mir setzen. Er war schon wieder mit anderen Dingen beschäftigt.
Am Rande des Weges hatte er eine grüne Glasscherbe in der Sonne blitzen sehen. Die pulte er jetzt mit den Fingern aus dem Sand, wischte den Schmutz an seiner Hose ab und hielt sie vor sein linkes Auge. Mit schief verzogenem Gesicht versuchte er, das rechte Auge dabei zuzukneifen. Langsam kam er so auf mich zu. Ich stellte mir vor, dass er mich durch das grüne Glas ganz grün sehen müsste. Ich lachte und winkte. Jakob lachte auch. Er stand jetzt direkt vor mir, ließ die Hand sinken und reichte mir die Scherbe. „Schau mal“, sagte er stolz, „eine echte Zauberscherbe“. Ich betastete das dickwandige grüne, schon etwas verwitterte Glasstück. Es stammte offenbar von einem Flaschenboden, unterschied sich jedoch deutlich von den zerschlagenen Bierflaschen, an denen ich mir hier so oft die Fahrradreifen platt fahre…
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