Aus dem Büchermeer gefischt: Sieben Kinderbuch-Schätze

Erstes Gefühl bei jeder Buchmesse: Wo fange ich an? So viele Neuerscheinungen in allen Gängen, dass man in der großen Masse sehr viel sehen aber wenig genau wahrnehmen kann. Das aber ändert sich:  Begrenzt auf die Fragestellung „Welche neuen Formen und Themen gibt es im Kinderbuchbereich?“ schärft sich der Blick – und man entdeckt Bemerkenswertes besonders zu folgenden Aspekten:

Die Liebe zu den kleinen Dingen

Jetzt darf es froh und glücklich verkündet werden: „Gerda Gelse“ hat in der Sparte Sachbuch den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014 erhalten! Ein Kinderbuch ausgerechnet über Stechmücken? Die österreichische Kindergartenpädagogin Heidi Trpak weiß, warum: Kaum ein Tier ist bei Kindern so bekannt (und schnell mal platt gehauen) wie eben dieses vermeintlich lästige Insekt. Dass davon nun kein moralischer Appell abgeleitet wird a la „Man soll keine Lebewesen töten“, ist der besonderen Kunst und Wahrnehmungsfähigkeit des Autorenteams zu verdanken: Mit großem Einfühlungsvermögen für das, was Kinder fühlen, fragen und bestaunen, weiß sie einfach zu faszinieren, lässt mit einem Augenzwinkern die Kostbarkeit des kleinen Tierchens lebendig werden, ohne sie konventionell zu verniedlichen. Und die Künstlerin Heidi Laura Momo Aufderhaar aus Berlin hat dazu eine geniale Bildersprache durch filigranen Pflanzendruck gefunden: Im Gewebe von Blättern und Kräutern erkennt sie eine Entsprechung zu den zarten Mückenflügeln. Natur erzählt von Natur, Worte erschließen Wunderwelten – und bei allem lernen die Kinder (und Erwachsene) alles, was man naturwissenschaftlich von Mücken wissen sollte. Solche Bücher machen anschaulich, dass Sachbücher eine Zukunft haben – wenn sie ihr besonderes Erzähl- und Gestaltungspotential zu nutzen wissen!

Um das Staunen in der Natur und um die Achtung vor dem Winzigen geht es auch in dem Bilderbuch „Weihnachtsspuren im Winterwald“  von der in England lebenden Autorin Narisa Togo. Mutter und Kind gehen durch die Stille des Waldes: kein Schmuck und Glitzer, keine Krippe, kein Lebkuchen muss hier bemüht werden, um für Weihnachtsstimmung zu sorgen. Weihnachten geschieht hier im Kleinen, Lebendigen, das manchmal nur als Spur zu erahnen ist. Sympathisch frei von Kitsch und süßer Sentimentalität – aber tief anrührend und wärmend für kalte Tage!

Scheitern, schauen, Schönes entdecken

Wenn nicht alles nach Plan läuft – Missgeschicke passieren, Pläne platzen, Brüche und Verletzungen entstehen – können Phantasie und Liebe Wunder wirken. Happy End im Bilderbuch – das gelingt dann besonders glaubwürdig und tröstlich, wenn nicht einfach „alles wieder gut“ oder ungeschehen gemacht wird, sondern aus dem Brüchigen langsam etwas anderes und neues erwächst. Zwei Geschichten erzählen auf ganz unterschiedliche Weise davon:

„Ojemine“ – das Bügeleisen hat sich in den Stoff gebrannt und auf dem Weiß eine bleibende Spur hinterlassen. Das ist nicht rückgängig zu machen, das kann für Ärger sorgen, das lässt sich nicht vertuschen – aber vielleicht verwandeln…In einer bestechend einfachen Bildersprache wird mit wenigen Worten und Zeichen von der Kraft der Phantasie erzählt, durch die der Fleck in vielen Variationen neue Möglichkeiten offenbart und am Ende in schöner Gestalt den liebevollen Humor über Ärger und Verdruss siegen lässt. Ein wunderbares Trostbuch über die Kunst, im vermeintlich Unschönen neue Seiten und Chancen zu entdecken. Einfach und tiefgründig zugleich – auch für Erwachsene.

Das gilt auf andere Art auch für die Trennungsgeschichte „Lou Karibou“ aus dem noch jungen  Verlag „Kleine Gestalten“. Die Realität im Leben des kleinen Elchs ist das Getrennt sein der Eltern:   Er erlebt eine Mama- und eine Papawelt im Wechsel, durchaus verschieden, aber in einem doch ganz sicher und fest miteinander verbunden: in der Liebe, die beide nicht nur halb, sondern voll und ganz ihrem Kind schenken. Das Trennende wird weder klein geredet noch als Problem in den Mittelpunkt gestellt. Es ist Lebenswirklichkeit und in dieser Lebenswirklichkeit schmälert die vermutlich zerbrochene Liebe der Eltern nicht die Liebe zum Kind. Das Kind wird nicht instrumentalisiert und zwischen beiden hin- und hergezogen – es wird als ganze, als ganz und gar von beiden geliebte Persönlichkeit dargestellt. Das alles wird warmherzig beschrieben und nicht bewertet oder moralisch gedeutet. Ein wirklich mal gut gelungenes Buch neben vielen gut gemeinten Büchern zum Thema Trennung und Scheidung.

Lesen – spielerisch und kreativ

 Dass man mit Büchern mehr machen kann, als einfach „nur“ lesen, soll schließlich an drei Beispielen deutlich werden: Bei „Hilfe, dieses Buch hat meinen Hund gefressen“ spielt auf geniale Weise die Form des Buches bei der Geschichte mit. In der Mitte zwischen den Seiten verschwinden Dinge, erst der Hund und schließlich ganze Fahrzeuge. Da hilft nur eins: Kräftig schütteln, damit alles wieder zum Vorschein kommt, wenn auch reichlich durcheinander…bleibt zu hoffen, dass bei der Herstellung des Buches auf eine extra stabile Bindung geachtet wurde, die all die Schütteleien lange aushält. Die Kinder werden ein großes Vergnügen an diesen erstaunlichen interaktiven Möglichkeiten haben.

 

Interaktive Bucherlebnisse bietet der Beltz-Verlag auch mit seinen Mitmach-Kisten zu beliebten Klassikern wie Grüffolo, Freunde oder zum Löwen, der nicht Schreiben konnte an. In einer stabilen Box, die im Deckel zugleich eine Kulisse für das Figurenspiel bietet, sind vielfältige Materialien und Anregungen für den spielerischen Umfang mit dem jeweiligen Bilderbuch im Vor- und Grundschulalter enthalten. Gut durchdacht!

 

Viel kleiner kommen dagegen die Schattentheater-Leporellos zu Märchen aus dem Verlag Kleine Gestalten daher. Die lassen sich blättern und vorlesen, mit ihrer Scherenschnitt-Bilderfolge aber auch wie ein Filmstreifen auseinander ziehen und vor einer Lichtquelle an der Wand zu Leben erwecken – zum Beispiel mit dem gestiefelten Kater. Eine schöne, ästhetisch wie praktisch gut gelöste Renaissance einer alten Darstellungstechnik.

Resümee: Ich staune! Das Bilderbuch präsentiert sich in diesem Jahr besonders einfallsreich, experimentiert mit den besonderen ästhetischen, phantasiestiftenden und kreativen Möglichkeiten des Mediums und zeigt, dass es damit noch lange nicht am Ende ist…

Susanne Brandt

 

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt