Schwer zu sagen, was aus den Wolken wird. Der Blick zum Himmel gehört zum Morgen wie der Becher Tee und die Frage: Sandalen oder feste Schuhe? Heute fällt die Entscheidung an der Haustür schnell. Ich bin spät dran und stapfe zügig die Straße bergauf.
Oben an der Ecke begegnet mir bereits der alte Mann mit dem Dackel. Sonst treffe ich ihn immer erst einige hundert Meter weiter vor der Tür des Bäckerladens. Auf seine Pünktlichkeit ist Verlass. Auf meine nicht immer.
Der Bäckerladen ist um diese Zeit meistens voll. Im Winter schauen die Menschen von den Stehplätzen am Fenster nach draußen auf die Straße. Einige nicken mir zu, wenn ich vorbei komme. Wir kennen uns nicht mit Namen. Vielleicht bin ich einfach die tägliche Zufußgeherin für sie. Ich weiß, wem welcher Hund gehört. Und auch, wenn die Scheiben in der kalten Jahreszeit beschlagen sind, erkenne ich die Frau mit der dicken Hornbrille an ihrer Ballonmütze, die sie selbst beim Frühstücken nicht absetzt.
Jetzt aber ist Sommer. Da steht die morgendliche Bäckerläden-Gemeinschaft am liebsten mit dampfenden Kaffeebechern vor der Tür. Ein Fest für all die Hunde! An langer Leine feiern sie ihr Wiedersehen jeden Tag neu, tollen und balgen miteinander auf dem Bürgersteig. Ich muss aufpassen, dass mir niemand vor die Füße springt, weiche aus, vergesse nicht zu grüßen. Hier im Freien bleibt es nicht beim stummen Kopfnicken. Ein Moin ist das Mindeste. Oder Morjen, wie der alte Mann mit dem Dackel gern antwortet. Sein Zungenschlag klingt anders als bei jenen, die schon ihre Kindheit hier im Werftarbeiter-Viertel verbracht haben. Vielleicht kommt er aus Ostpreußen. Oder Pommern. Er wird schon um die 90 sein.
Gestern, als wir uns pünktlich vor dem Bäckerladen begegneten, wirkte er für wenige Augenblicke wie ein kleiner Junge. Er hatte einen dicken Ast vom Straßenbaum gefunden, und die versammelten Hunde sprangen immer wieder an ihm hoch, um nach dem Knüppel zu schnappen, während er das begehrte Stück mit schwungvollen Bewegungen durch die Luft sausen ließ. Ein ausgelassenes Spiel, das ein fröhliches Lachen in sein faltiges Gesicht zauberte. Ich musste an die Skulptur „Tanzende Alte“ von Ernst Barlach denken, die einen ganz ähnlichen Moment einfängt: jenen Versuch, in einer Mischung aus Übermut und Selbstvergessenheit den Gehstock einfach an die Hauswand zu stellen, um sich für eine nicht messbare Zeitspanne des Glücks noch einmal frei und unbeschwert zu bewegen.
Beim Weitergehen begleitet mich dieses Bild. Nicht nur für einen Tag. Der morgendliche Weg durch die Nordstadt gleicht einer Kette von Bildern, die sich in meinem Gedächtnis aneinanderreihen wie Perlen an einer Schnur.
Ein Stück weiter Richtung Innenstadt treffe ich die Maler. Die Straße gehört zum Sanierungsgebiet. Nun darf eines der Häuser sein schmutziges Grau gegen ein mutiges Violett tauschen. Schon seit Tagen hocken die Maler im Gerüst und bringen den alten Jahrhundertwende-Charme wieder zum Leuchten. Jeden Morgen erkenne ich Veränderungen. Eine Arbeit, bei der man abends sieht, was man am Tag geschafft hat, denke ich. Einer der Maler pfeift vergnügt einen Schlager vor sich hin.
Hinter der scharfen Kurve, die zur Neustadt führt, sind es nicht die Maler, die Farbe in die Straße bringen. Leuchtende Orangen, Kohlköpfe, Melonen und Paprika säumen in offenen Kisten den Gehweg und wechseln sich ab mit grellen Werbeplakaten für Döner- und Pizzaangebote. „Klein-Kreuzberg“ wird die Straße von einigen Flensburgern genannt. Auch hier treffe ich vertraute Gruß-Bekannte: Unter den zahlreichen Schneidern gibt es einen, der in seinem Schneiderladen wohnt und die Vorbeigehenden durch das offene Schaufenster an seinem Tagesrhythmus teilhaben lässt. Täglich winken wir uns zu. Manchmal bewundere ich seine Gelassenheit, mit der er hinter seiner Nähmaschine sitzt, auch wenn es daran mal nichts zu tun gibt, und freundlich durch das Fenster den Passanten zulächelt.
Mehr als in anderen Straßen verändert sich die Atmosphäre in der Neustadt je nach Wetterlage. An warmen Tagen sitzt auch der Schneider nicht hinter seiner Nähmaschine, sondern lieber auf den Stufen seines Eingangs. Überhaupt warten viele dann eher vor dem Laden als drinnen an der Kasse auf Kundschaft oder unterhalten sich energisch gestikulierend mit ihren Nachbarn. Ich schnappe Gesprächsfetzen in Sprachen auf, die ich nicht verstehe. Das hält mich nicht davon ab, auch selbst das Gespräch zu suchen. Viele der zugewanderten Menschen beherrschen neben ihrer Muttersprache auch die deutsche Sprache mit bewundernswerter Ausdruckskraft und wissen berührende Geschichten von Heimat und Wanderschaft, Enttäuschung und Staunen, Träumen und Mut zu erzählen. All diese Lebensgeschichten gehören mit hinein in jene feine Mischung aus orientalischem Markt und mediterraner Lebensfreude, die sich an Sommertagen zwischen den Häusern so intensiv ausbreitet, dass ich die Straße inmitten all der Sprachen, Farben und Gerüche kaum mehr als grau und sanierungsbedürftig wahrnehme.
An Regentagen ist das anders. Da bleiben viele Türen geschlossen. Ich frage mich oft, wie all die Menschen aus warmen Ländern mit dem dunklen und grauen Winter bei uns zurechtkommen. Die Sehnsucht nach den langen hellen Mittsommertagen steht ihnen ab April ins Gesicht geschrieben. Mit jedem Sonnentag im Frühjahr wird das Funkeln in ihren Augen lebendiger. Die Lieder, die einige Männer von der Straßenreinigung bei der Arbeit schon früh am Morgen singen, klingen leidenschaftlicher, wenn die Temperaturen in den zweistelligen Bereich klettern.
Und ihre Freude wirkt ansteckend – bei mir wie bei den Fahrradfahrern, die mir morgens in großer Zahl entgegen kommen. Gerade dann, wenn ihnen eigentlich nicht nach Lächeln zumute ist. An manchen Sommertagen wischen Regen und Gegenwind an den steil ansteigenden Straßen für kurze Zeit die Freude aus ihren Gesichtern. Die Eiszeit hat sich in Flensburg mit einer einzigartigen Formgebung verewigt, die sich jedem, der die Stadt durchläuft oder durchradelt, mit mindestens einer Treppe oder Steigung immer wieder in Erinnerung ruft – um jede Anstrengung bald darauf mit unvergleichlich schönen Bildern beim Blick über Förde, Hafen und Stadt zu belohnen. So bleiben angestrengte Gesichter bei den Fahrradfahrern auf die wirklich ungemütlichen Schietwettertage beschränkt. Das Lächeln überwiegt und verbindet sich gern mit einem Winken als Gruß im sommerlichen Treiben.
Dann sitzt auch der Fischbrötchenhändler schon in aller Frühe vor seinem Verkaufsladen am Hafen, reinigt klappernd sein Geschirr und lässt die Schalen und Bretter in der Sonne trocknen. Die Möwen ahnen, dass beim Reinemachen in der Fischbude auch mit Abfall zu rechnen ist und sind schon zur Stelle.
Nicht an jedem Morgen biege ich gleich am Nordertor zu den Segelschiffen ab. Heute schlüpfe ich durch die dicken Mauern des Tores, um dahinter einzutauchen in die für mich spannendste Straße der Stadt. Hier reihen sich rechts und links vom Kopfsteinpflaster skurrile Läden und Galerien aneinander, die immer für eine Entdeckung gut sind. Gewöhnliche Kettenläden haben in dieser Gegend keine Chance, wohl aber das türkische Reisebüro, das nebenher noch mit allerlei Gerätschaften handelt, die offene Kreativwerkstatt, die Dampfmaschinen-Ausstellung und der Second-Hand-Laden. Während einige dieser Ladenlokale eher dem Experiment für eine Weile Raum geben und nach wenigen Monaten wieder ihr Gesicht wechseln, gibt es Stammgäste in dieser Straße, die sich seit Jahrzehnten halten. Der Bioladen gehört dazu. Oder das Bürstengeschäft, in dem ich gelernt habe, wie sich der Hausputz selbst an den schwierigsten Ecken mit erstaunlichen Bürsten- oder Besenvariante in ein sinnliches Erlebnis verwandeln lässt.
Und dann bin ich da: noch nicht am Ziel meines täglichen Arbeitsweges, wohl aber am Knotenpunkt jener Bilderschnur, die ich auf dem ganzen Weg mit mir herumtrage. Über meinem Kopf baumeln Schuhe in ganz unterschiedlichen Größen, Formen und Farben an langen Leinen, die von Haus zu Haus über die Straße gespannt sind. Stadtführer kommen mit Touristengruppen gern hierher und haben für diese wohl nördlichste Shoefiti-Straßenkunst Deutschlands einige Döntjes parat. Ich habe nur meine gesammelten Bilder.
Auch die Schuhe haben was. Sie haben ihre Geschichten, kennen sich aus mit Stolpersteinen und Sackgassen, Stillstand und Luftsprüngen. In Gedanken schnappe ich mir eines der Paare von der Leine und verflechte die Schnürsenkel mit den Eindrücken, die ich im Vorübergehen von Menschen auf der Straße gesammelt habe: der alte Mann mit Hund und der Schneider an seiner Nähmaschine, der syrische Pizzabäcker und der Fischbrötchenverkäufer am Hafen, der singende Arbeiter und die Frau mit der Mütze beim Morgenkaffe – vielleicht hängen die Schuhe über mir für sie alle da, rätselhaft wie Zauberzeichen für all die Lebensgeschichten, die bei jeder noch so flüchtigen Begegnungen Bilder wecken. Fußabdrücke, denke ich, flüchtig wie jene Zeichen, die manchmal für kurze Momente am Spülsaum der Förde sichtbar werden, um bald darauf wieder unter einer Welle zu verschwimmen.
Ich schweife ab, vom Himmel zu den Wellen und wieder zurück: Über mir baumeln Turnschuhe, ausgetretene Wanderstiefel und wenig getragene Damenschuhe mit Glitzer und Lack. Offen bleibt, wer einst mit den Schuhen hier durch die Stadt gelaufen sein könnte. Am Abrieb der Sohlen versuche ich zu ermessen, ob es eher lange oder kurze Wege gewesen sind, ob wohl die Füße der Unbekannten gemütlich oder unbequem darin Platz gefunden haben.
Dann löse ich geduldig die Knoten wieder, die ich versucht habe, zwischen den Bildern von Menschen und den Schuhen da oben an der Leine zu knüpfen. Alles andere überlasse ich dem Wind. Der kennt sich aus mit Gedankenspielen. Lufttänzer, kommt mir beim letzten Blick nach oben als Wort in den Sinn.
Im Weitergehen nehme ich nur das mit, was ungebunden bleibt: jenes Gefühl von Freiheit, mit dem sich die Wege durch diese Stadt nicht nur zwischen Start und Ziel, sondern vor allem zwischen Himmel und Erde immer wieder neu und anders öffnen.
Susanne Brandt, im Sommer 2014
Die Geschichte wurde mit dem 3. Preis beim Wettbewerb „Butter bei die Fische – So schreibt der Norden“ ausgezeichnet und ist in der Anthologie „Butter bei die Fische – So schreibt der Norden“ veröffentlicht. Es ist bei der Union Bank und Ostangler Versicherung erhältlich. Ein Bericht zur Preisverleihung aus Flensburg Avis ist hier nachzulesen:
http://www.fla.de/artikel/Von-Geisterhunden-und-betrunkenen-Seebaeren-18768.html