Zwei Tage lang trafen sich Expertinnen und Experten aus Forschung, Praxis und Kunst im Schloss Blutenburg, um bei einem interdisziplinären Forum speziell das geographische Sachbuch aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und von diesem Focus aus auch einen Ausblick auf die Situation des Sachbuchs allgemein zu versuchen.
http://www.ijb.de/veranstaltungen/single/article/die-vermessung-der-sachbuchwelt/138.html
Beim Geo-Sachbuch geht es um die Verräumlichung von Wissen, d.h. um die Kunst, Raumvorstellungen in die Zweidimensionalität des Buches zu bringen. Ausgelotet wurde die historische Entwicklung dieses Genres, vor allem aber die Frage, wie Menschen (und insbesondere Kinder) nicht allein die materiellen Aspekte von Räumen wahrnehmen, sondern wie sie Räume interpretieren und verändern durch ihr Denken und Handeln. So gesehen öffnen Geo-Sachbücher vor allem Räume zum Denken, Wissen und Erinnern, die wir mit den Inhalten unseres Lebens füllen.
Auch Möglichkeiten der kreativen Auseinandersetzung mit Geo-Buchthemen wurden im Rahmen des Forums erprobt: http://www.pinselfisch.de/index.php
Bei der Frage nach der Wirkung und Bedeutung von Geo-Sachbüchern geht es nicht zuletzt um mögliche Kommunikation, die sich mit Büchern anbahnen lässt. Wissen wird dabei vor allem als Habitus verstanden, als eine Haltung zur Umwelt und zum Raum, die sich mit den spezifischen Möglichkeiten des Buches – ästhetisch, narrativ, handlungsorientiert, informativ, inspirierend, ordnend – erleben und erschließen lässt.
Nicht-lineare Zugänge auf mehreren Ebenen als innovatives Buchkonzept
Aspekte, die dabei eine besondere Rolle spielen und sich bei der Beschreibung und Beurteilung von Sachbüchern heranziehen lassen, sind…
- … die Affinität von Jungen zum Sachbuch (die oft anders lesen, sofort gepackt und verblüfft werden wollen – sonst legen sie das Buch schnell wieder aus der Hand): Wie und was fasziniert?
- … der altersmäßig mitunter offene Adressatenkreis (All Age), der sich dann ergibt, wenn Entdecken und Vertiefen auf verschiedenen Ebenen möglich ist: Bietet das Buch eine Mehrschichtigkeit, die Zugänge auf mehreren Ebenen zulässt?
- … das Verhältnis von Fakt und Fiktion. Wo liegen die Grenzen und Chancen narrativer Elemente bei der Informationsvermittlung?
- … die Angebotsvielfalt verschiedener Vermittlungswege durch Bücher – vom Reihentitel mit wiederkehrenden Mustern bis hin zum individuell gestalteten Gesamtkunstwerk als Einladung, auf verschiedenen Wegen in ein Thema einzusteigen (was die besondere Chance vielfältig bestückterWissensboxen der Büchereizentrale unterstreicht!). Welche Facette des Buchmarktangebotes machen diese Vielfalt aus?
- … die Schwierigkeit, Sachbücher als Übersetzung in anderen Ländern einzusetzen, weil Weltbilder und Raumvorstellungen oft national geprägt sind.
- … die Besonderheit einzelner geografischer Räume (Meer, Insel, Stadt…) in Beziehung zum Menschen und seinem sozialen und sinnlichen Erleben. Wie kommen diese Besonderheiten konzeptionell zur Umsetzung?
- … die kognitive Leistung von Kindern, sich ein narratives Konzept durch Karten und Pläne besser vorzustellen, piktoriale Karten zu lesen und beispielsweise über Spielteppiche und Spielpläne die Übersetzung einer dreidimensionalen Raumvorstellung auf ein zweidimensionales Bild zu üben. Passt die Kartendarstellung zur Deutungskompetenz der Zielgruppe?
- … der Unterschied, dass sich z.B. bei Googlemaps die Karte dem eigenen Standort zuordnet, während man im Buch seine eigene Position zum beschriebenen Raum finden muss.
Besonders anregend war vor diesem Hintergrund das Werkstattgespräch mit Anke Leitzgen und Lisa Rienermann zu dem Buch „Entdecke deine Stadt“.
Folgende Merkmale kennzeichnen das Buchkonzept:
- Keine lineare Struktur, sondern klar umrissene Themenräume, in die man beliebig und auf verschiedenen Ebenen eintauchen wie auch in verschiedenen Richtungen lesen kann (entspricht Erschließungsgewohnheiten aus dem Internet)
- Nicht belehrend, sondern fragend und beschreibend
- Zum genauen Hinschauen verlockend
- Kinder nicht künstlich zu Experten erklären, wohl aber ein ehrliches Interesse an ihren Sicht- und Denkweisen zeigen
Das Buchkonzept vermittelt dem Kind, dass Wissen nicht unbedingt hierarchisch organisiert und dass nicht schon alles fertig gedacht sein muss, sondern dass bei vielen Fragen noch neue Gedanken und verschiedene Antworten möglich und willkommen sind.
Medienbeziehungen von unterschiedlicher Qualität
Spannend ist bei diesem Prozess auch die Frage nach Intermedialität, d.h. nach der Beziehung von einem Medium zu einem anderen. Diese ist dann nicht befriedigend beantwortet, wenn ein eher schwaches Buchmedium durch digitale Ergänzungsfunktionen (vgl. TipToi, Ting) oberflächliche Reize, aber keinen wirklichen Mehrwert gewinnt. Solche Beigaben erweisen sich nicht selten als kommerziell motivierter Selbstzweck. Besser gelungen sind Medienkombinationen wie die Buch-Hör-Kombinationen in der Reihe „Abenteuer und Wissen“ von Maja Nielsen.
Spannend und zukunftsweisend bleibt die Frage, wie durch Mediengewohnheiten veränderte Seh- und Lesarten konzeptionell im Buch umgesetzt werden und hierbei zugleich neue buchspezifische Qualitäten in der Text- und Bildgestaltung hervorbringen können (wie z.B. durch nicht-lineare Strukturen). Das Gelingen von neu durchdachten Buchkonzepten braucht in erster Linie Zeit zum Experimentieren – aber die ist im hektischen Verlagsgeschäft oft viel zu knapp.
Einen für mich persönlich eindrucksvollen Abschluss fand die Tagung durch das Kennenlernen der Seh-Welten von Binette Schröder in der ihr gewidmeten Ausstellung, die vom Sachbuch in die Welt der Fantasie und des Staunens führt, ebenso aber auch das Wunderbare in der realen Umwelt sucht (Steine!) wie auch Traumräume im Leben öffnet.
Zu danken für die anregend Zeit ist den Organisatorinnen Nikola von Merveldt und Cornelia Rémi, allen Mit-Referentinnen und Teilnehmenden für die engagierten Diskussionen wie auch Lektoratsleiter Jochen Weber und Bibliothekarin Jutta Reusch für die guten Fachgespräche und interessanten Einblicke in Ausstellung, Sammelgebiete und Arbeitsweisen der internationalen Jugendbibliothek.
Gefördert wurde die Tagung von der Waldemar-Bonsels-Stiftung, der Münchener Universitätsgesellschaft und dem Social Sciences and Humanities Research Council of Canada.
Susanne Brandt