Bunte Regenbögen und dunkle Szenarien der Bedrohung, Blut und Blumen – von Naturkatastrophen, Krieg und Vertreibung traumatisierte Kinder brauchen eine behutsame Begleitung und Ausdrucksmöglichkeiten, um mit dem Erlebten weiterleben zu können. Die Bedeutung einer psychosozialen Betreuung von kriegstraumatisierten Kindern rückt angesichts der unvorstellbaren Angst- und Gewalterfahrungen von unzähligen Kindern im Bürgerkrieg von Syrien mit bedrückender Aktualität erneut in den Blick. Das Kinderhilfswerk terre des hommes schreibt dazu u.a.:
„Viele syrische Flüchtlingskinder sind durch Flucht- und Gewalterfahrungen seelisch gezeichnet. Kinder, die sehr stark traumatisiert sind, erhalten eine intensive psychologische Betreuung. Darüber hinaus werden auch Freizeitaktivitäten für die Kinder organisiert: Mit Hilfe von Spielen, Tanz und Theater werden die Flüchtlingskinder psychisch entlastet, Lebensfreude und Tatkraft kommen zurück. Auch das Malen hilft den Kindern, die Erlebnisse zu verarbeiten. Die Bilder zeigen die grausamen Geschehnisse während der Kämpfe und der Flucht und ermöglichen den psychologischen Betreuerinnen, Vertrauen zu den Kindern aufzubauen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Die Kinder beginnen über ihre Sorgen und ihre Sehnsucht nach dem Zuhause zu sprechen. Die liebevolle Betreuung mildert die Sehnsucht der Kinder und schafft neue Zuversicht.“
Bereits 2010 konnte ich durch die Mitarbeit an einem Ausstellungsprojekt zu Bildern traumatisierter Kinder einen Einblick gewinnen und persönliche Kontakte knüpfen zu Menschen, die sich in diesem Bereich engagieren. Entstanden ist damals eine Buchpublikation: http://www.artsbychildren.org/Publikationen.html
Ein Auszug daraus ist nachfolgend in voller Länge nachzulesen, verbunden mit der Bitte, sich vor diesem Hintergrund auch über die aktuellen Spendenmöglichkeiten für psychosoziale Projekte für kriegstraumatisierte Kinder zu informieren: http://www.tdh.de/was-wir-tun/themen-a-z/traumatisierte-kinder/projekt-refugio.html
Zwischen Erinnerung und Sehnsucht
Vortrag zur Ausstellungseröffnung mit Kinderbildern aus Krisengebieten der Welt
Susanne Brandt, Juni 2010
Bunte Regenbögen und dunkle Szenarien der Bedrohung, Blut und Blumen – wenn wir uns umsehen in dieser Ausstellung, wenn wir die Bilder auf uns wirken lassen, dann mögen wir uns hin- und hergerissen fühlen zwischen Beklemmung, vielleicht Erschrecken angesichts der Not, die wir hinter manchen Bildern erahnen.
Andererseits vermitteln uns viele Bilder aber auch eine erstaunliche Kraft, sie erzählen uns Geschichten – so meinen wir – Geschichten ohne Worte, Geschichten von Sehnsucht, Hoffnung und Überlebenswillen. Wir entdecken die Freude an Farben und die Suche nach Ordnung, nach verlässlichen Beziehungen und Strukturen.
Doch halt – wir können sehen, staunen und ahnen. Aber wir sollten vorsichtig und zurückhaltend sein mit Interpretationen, Festlegungen und Erklärungsversuchen dazu, was genau die Elemente eines Bildes bedeuten. Lassen Sie uns die Bilder zunächst phänomenologisch betrachten. Wir können sehen, was konkret da ist. Wir können staunen über die Formen- und Farbenvielfalt, die sich darin ausdrückt. Wir können uns davon berühren lassen – aber wir können uns nicht anmaßen, daraus Rückschlüsse über das Denken und Wesen der Kinder zu ziehen, die diese Bilder gemalt haben.
Wir kennen diese Kinder nicht persönlich. Wir wissen nicht, ob die Bilder Realität, ob sie Traum- oder Wunschvorstellungen preisgeben. Die Bilder sind zu Recht „eigen-sinnig“, sie lassen sich nicht von uns, von unseren Denk- und Deutungsmustern vereinnahmen. Aber wir können eine Haltung der Achtung und des Respektes einnehmen, wenn wir anfangen, uns – angeregt durch die Bilder – für das Leben der jungen Künstlerinnen und Künstler zu interessieren, wenn wir beginnen nachzufragen, unter welchen Umständen sie leben und was sie erlitten haben und was unzählig viele Menschen in ihrem Land täglich erleiden.
Im Vordergrund steht nicht allein, was die Bilder uns sagen, sondern dass die Kinder durch diese Bilder einen Weg finden, sich auszudrücken, dass sie mit den Bildern eine Möglichkeit entdecken, sich ihres Lebens zu vergewissern, sich von ihren Erlebnissen und ihrer eigenen Person ein Bild zu machen. Die Fähigkeit, eigene Gefühle in Bildern und Metaphern darzustellen, entwickeln Menschen bereits ab ihrem 3. Lebensjahr. Sie entwickeln dadurch die Fähigkeit, auch solche Gefühle und Geschehnisse zu verarbeiten und zu kommunizieren, die sie sprachlich nicht ausdrücken können oder mögen.
Jedes Bild trägt in sich also einen Ausdruckswert, der darin besteht, dass das Kind etwas für sich tut, dass es sich mit seinen eigenen Gefühlen auseinandersetzt und damit wieder eine Beziehung zu sich und seiner möglicherweisen verletzten Persönlichkeit findet. Erst an die zweite Stelle rückt der Erzählwert eines Bildes, die Nachricht, die das Bild einer Person vermittelt, die sich achtsam dafür öffnet.
Gerade in der Bearbeitung von Traumata kommt der Kunsttherapie eine besondere Bedeutung zu. Ein Trauma beeinträchtigt die Fähigkeit, die Welt zu verstehen und Vertrauen zu haben. Es kann sein, dass sich ein Trauma zunächst ganz oder teilweise der Aufarbeitung durch Worte entzieht. Dadurch wird es schwieriger, Beziehungen aufzubauen, was wiederum das Gefühl des Alleinseins verstärkt. Die Künste bieten hier eine Form der entspannten Annäherung, die zudem noch Freude und Selbstvertrauen in die eigenen Möglichkeiten vermittelt.
Und noch ein anderer Aspekt spielt hier eine wichtige Rolle: In vielen von Krisen und Katastrophen geschüttelten Ländern haben wir es mit einem so unüberschaubar großem Maß an Traumatisierungen zutun, dass unsere westlichen Vorstellungen und Erfahrungen mit Individual- und Gesprächstherapie oft zu kurz greifen.
Hier bieten verschiedene Formen der Kunsttherapie eine große Bandbreite an Möglichkeiten, um ganze Gruppen und Gemeinschaften in die Trauma-Arbeit einzubeziehen und dennoch der Individualität und Persönlichkeit eines jeden einzelnen Kindes gerecht zu werden. Dabei ist der Begriff der Kunsttherapie weiter zu fassen, als das, was uns hier beispielhaft mit den Bildern dieser Ausstellung vor Augen steht.
Zu den künstlerischen Therapieformen gehören auch Tanz und Theater, Musik und Trommeln, Gesang und das Erzählen von Geschichten und viele Formen, die das eine mit dem anderen verbinden. So vielschichtig die Symptomatik nach traumatischen Erlebnissen sein kann, so komplex stellen sich die Möglichkeiten der Hilfe und Begleitung dar.
Auch das ist ein Grund, hier das ganze Spektrum der künstlerischen Therapieformen in den Blick zu nehmen und vielfältige Chancen darin zu entdecken. Dort, wo zum Beispiel auch eine sprachliche Auseinandersetzung möglich ist – was bei Traumata durchaus der Fall sein kann – ergeben sich möglicherweise spannende Wechselbeziehungen zwischen dem bildkünstlerischen Ausdruck und dem Narrativen, die in ihrer therapeutischen Dimension viele Chancen öffnen: Bilder können erzählen und Worte können Bildvorstellungen wecken. Solche Bild-Geschichten – in eben dieser Doppeldeutigkeit verstanden – können bei der Konstruktion und Rekonstruktion von Identität eine wichtige Rolle spielen. „Sich ein Bild von sich machen“ kann verbal über das Erzählen geschehen und/oder über andere gestalterische Prozesse.
Speziell das Erzählen, das Erzählen von Geschichten, ist beispielsweise ein afrikanisches Mittel der Trauma-Bearbeitung, das im Zusammenwirken mit westlichen Therapieformen eindrucksvolle Erfolge erzielen kann. In der afrikanischen Tradition des Geschichtenerzählens, bei dem der Schmerz zum gemeinschaftlichen, kathartisch heilenden Ritual werden kann, stecken wertvolle Ressourcen, die sich oft erst aus dem Wissen und der Erfahrung mit der jeweiligen Kultur erschließen.
Gesundung gelingt hier oft erst als Teil eines Heilungsprozesses der Gemeinschaft. Und Heilung ist oft kein „Endprodukt“, wie wir es hier oft als Ende einer erfolgreichen Individualtherapie erwarten, sondern ein dynamischer Prozess, begleitet durch Rituale für Körper und Seele, der die Gemeinschaft mit einbezieht.
Es steht uns also nicht zu, hier aus der Entfernung und vor dem Hintergrund hiesiger Kultur- und Therapieerfahrungen vorschnell Rezepte und Lösungswege zu entwickeln. Dazu braucht es verlässliche Kooperationen und Netzwerke in den jeweiligen Krisengebieten vor Ort, dazu braucht es den Austausch und die Beratung durch Fachleute in den jeweiligen Ländern, die vertraut sind mit dem kulturellen und spirituellen Hintergründen in den einzelnen Ländern.
Und dazu braucht es Verständnis und Anerkennung für das Potential, das gerade im künstlerischen Tun für jeden Menschen steckt – und das jeder Mensch am eigenen Leibe – auch wenn keine therapiebedürftigen Störungen vorliegen – nachvollziehen kann.
So groß die Unterschiede auch sein mögen, wir können aus unserem persönlichen Erfahrungsschatz vermutlich alle bestätigen oder uns zumindest gut vorstellen, dass kulturelle Ausdrucksformen wie Tanz und Gesang, Rollenspiel und Erzählen in besonderer Weise gemeinschaftsstiftend wirken und gleichzeitig helfen, den eigenen Gefühlen Ausdruck und Struktur zu geben, dass sie helfen können, das Zutrauen in die eigenen kreativen Möglichkeiten zu stärken und einen Zugang zum eigenen Körper und zur Bilderwelt im eigenen Kopf zu finden.
Gerade diese gemeinschaftsstiftende und persönlichkeitsstärkende Wirkung von Kunst und Kultur ist von unschätzbarem Wert. Denn Kinder und junge Menschen in den Krisengebieten der Welt leiden in ganz besonderem Maße unter sozialen Defiziten und erleiden durch traumatische Erlebnisse eine empfindliche Verletzung ihrer Entwicklungsfähigkeit. Das gemeinsame Erleben von Kunst und Kultur, das Wiederentdecken der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten ist hier weitaus bedeutsamer für die Entwicklung von Lebenskompetenz und die Befähigung zur gesellschaftlichen Teilhabe, als vielfach angenommen wird.
Kunst und Kultur sind eben nicht „nur“ die schöne Kür, die als schmückendes Beiwerk vielleicht sein darf, wenn alle anderen Lebensgrundlagen gesichert sind. Kunst und Kultur gehören zu den elementaren Grundrechten aller Kinder, aller Menschen und können sich als solche, gerade in Krisensituationen, als heilende Kraft und Ressource erweisen. Und das zu allen Zeiten und überall auf der Welt.
Ich denke dabei zum Beispiel auch zurück an das Wirken des polnischen Kinderarztes und Pädagogen Janusz Korczak, der im Warschauer Ghetto ein jüdisches Waisenhaus leitete und unter den äußeren Bedingungen täglicher Bedrohung, Vernichtung und Erniedrigung nicht müde und nicht mutlos wurde, die von ihm formulierten Rechte der Kinder mit Leben zu füllen.
Bis zum Tag der Deportation, da die Versorgung der Kinder nur noch unter größten Entbehrungen möglich und die drohende Ermordung im Konzentrationslager unabwendbar schien, nahmen Spiel und künstlerisches Tun einen unvermindert hohen Stellenwert im Leben des Hauses ein. Theater spielen – das gelang auch und gerade in Zeiten des größten materiellen Mangels. Geschichten erzählen, spielen, malen, lesen und schreiben – dafür fanden sich immer wieder Anlässe und Möglichkeiten.
Ich denke ebenso an eigene berufliche Erfahrungen bei einem sozialen Projekt in Hessen, in dem Kinder beim dialogischen Vorlesen, beim Betrachten von Bilderbüchern und beim freien Erzählen Zugänge finden zu ihren eigenen Bilder- und Vorstellungswelten, in dem sie Halt erfahren, um für ihre eigenen Gefühle und Gedanken Orientierung zu suchen, in dem sie dazu ermutigt werden, sich im Gespräch, beim freien Malen oder Rollenspiel ihrer eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zu vergewissern.
Hier wie in der weltweiten Arbeit mit traumatisierten Kindern geht es um die Stärkung von Ressourcen durch künstlerisches Tun, die in jedem Kind, in jedem Menschen auch dann noch vorhanden sind, wenn schwere Belastungen die Zugänge zu diesen Ressourcen verstellen. Nicht nur dann, wenn extreme Traumaerfahrungen das Leben bedrohen.
Auch in anderen Schwellen- oder Grenzsituationen, in die Menschen immer und überall geraten können, wird die Verletzbarkeit und Gefährdung des Selbstbildes erfahrbar. Bei der dann einsetzenden Suche nach Orientierung führt der Weg oft in das schwierige Spannungsfeld zwischen mitunter quälenden Erinnerungen (Was ist mit mir geschehen?) und Sehnsucht (Was gibt es noch für Möglichkeiten?).
Die verschiedenen Formen der Kunsttherapie bieten hier wertvolle Möglichkeiten, den Prozess der Stabilisierung und Verarbeitung zu begleiten, sich behutsam und gestalterisch mit Erlebnissen und Erinnerungen auseinanderzusetzen, gleichzeitig aber auch die Sehnsuchts-Momente zu stärken und zu beleben, die den engen und bedrückenden Horizont öffnen können für neue Lebensmöglichkeiten.
Vielleicht kann es eine Hilfe sein, mit einem besonderen Augenmerk für die doppelte Chance, die im Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Sehnsucht liegt, auch die Bilder dieser Ausstellung zu betrachten.
Für eine kreative Auseinandersetzung mit Erinnerungen und Sehnsüchten ist ein ausreichendes Angebot an künstlerischer und ästhetischer Bildung unverzichtbar. Und wo diese Auseinandersetzung gefördert wird und gelingt, haben soziale Gerechtigkeit und ein gewaltfreies und demokratisches Zusammenleben deutlich bessere Aussichten auf Verwirklichung, sind sie doch Teil jener Sehnsucht, die Menschen auf eine bessere Zukunft hoffen lässt.
Dieser Zusammenhang appelliert an unsere Bereitschaft zur weltweiten Solidarität, wenn es darum geht, Kindern die Begegnung mit künstlerischen und ästhetischen Bildungs- und Erfahrungschancen zu ermöglichen – in den Krisengebieten der Welt ebenso wie im Blick auf die Chancengleichheit und Standards für Kunst- und Kreativitätsförderung im Bildungswesen hierzulande, die nötig wären, um wirklich allen Kindern Zugänge zu öffnen zu den heilenden und fördernden Kräften des eigenen künstlerischen und ästhetischen Tuns. Auch in diesem Sinne sprechen die Bilder für sich – und für die Kinder, die sie geschaffen haben.
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