Von Wegwarten und Seitenwegen. Prager Impressionen

„Buchstaben / von Rilkes Hand gesetzt / und wieder nachgezogen / von denen / die mit Sprache / seitab der Satzgedränge / umzugehen versuchen / vorsichtige Pflanzer / der Hoffnung auf Frucht / nützlich / bis zur Wurzel“ – so beschreibt die Dichterin Inge Meidinger-Geise 1986 die Existenz jener bibliophilen „Wegwarten“-Hefte, die ähnlich wie die namensgebende Feldfrucht mit unaufgeregter Beständigkeit und stiller Schönheit eher am Rande verwurzelt sind. Kurz vor unserer Reise nach Böhmen und Prag drückte mir eine Gefährtin aus der TextautorInnen- und KomponistInnengruppe TAKT überraschend eine Ausgabe der „Wegwarten. Eine literarische Zeitschrift für Einzelne“ in die Hand. 1896 – so die Geschichte – soll Rainer Maria Rilke dieses kleine Gesamtkunstwerk mit sorgfältig gestalteten Titelgrafiken und ausgewählter Dichtung erstmals in Prag herausgegeben haben. Dass es bis heute Menschen gibt, die an diese bewusst nicht-kommerzielle Tradition der „unverkäuflichen Hefte zum Weitergeben unter Freunden“ anknüpfen, um so bewusst den oft unscheinbaren Seitenwegen und Wegrandpflanzen der Kunst und Literatur weiterhin unaufdringlich Raum zu schenken, ahnte ich bis dahin nicht.

Mehr unbewusst als geplant – so mein Eindruck im Rückblick auf die vergangenen zehn Reisetage – entwickelte sich die „Wegwarten-Philosophie“ mit ihrem besonderen Blick für die eher verborgenen Geschichten, Menschen und Bilder einer Landschaft als gute Begleiterin, um jenes Prag mit seinem böhmischen Umland wahrzunehmen, das sich abseits der Touristenströme und Sehenswürdigkeiten offenbart. So blieb es nicht bei der Entdeckung dieser einen Geschichte des jungen Rilke in und mit dieser Stadt. Andere literarische Geschichten haben an verschiedenen Plätzen ihre Spuren in dieser Stadt hinterlassen – allen voran Franz Kafka (sehenswert: das ihm gewidmete Museum mit alten Dokumenten und neuen Medieninstallationen) und mit etwas Wissen um ihren Weg zu erahnen: die vielfältigen Verbindungen zu der mutigen und klugen Journalistin Milena Jesenska (die Adressatin von Kafkas Milena-Briefen), die 1944 in Ravensbrück umkam.

Auch bei einem Gang durch das Jüdische Viertel von Prag – heute leider verstellt durch die Ansammlung von kitschigen Souvenir-Shops – empfiehlt es sich, eher nach den „Geschichten hinter den Namen und Bildern“ zu fragen, als sich von den Menschenmassen hastig von einer Synagoge zur nächsten schieben zu lassen: Angefangen bei den Erzählungen des Rabbi Löw über die Werke von Max Brod, Franz Werfel und vielen anderen lässt sich das jüdische Leben Prags zu verschiedenen Zeiten auf faszinierende Weise erlesen – wobei es keineswegs nur um die „großen Namen“ geht! Die vielleicht eindrücklichsten Geschichten wohnen in den Zeichnungen, die in den Jahren 1941-1945 im Ghetto Terezin (Theresienstadt) von jüdischen Kindern aus Prag angefertigt wurden und heute in einer Ausstellung des jüdischen Museums zu sehen sind: persönliche Verarbeitungen von biblischen und märchenhaften Stoffen, Visionen, Ängste und immer wieder die ins Bild gesetzte Fantasie vom Fliegen…

Besonders erwähnenswert: Das tröstliche, bis heute sehr populäre Naturmärchen „Leuchtkäferchen“, 1876 in Böhmen geschrieben von dem evangelischen Theologen Jan Karafiat, fand damals in Terezin in neuer Weise Bedeutung und Ausdruck durch Spielszenen und Bilder der Kinder, die von schwachen Lichtern im Dunkel, von Hoffnung auf Rettung in der Not, von Vertrauen und Liebe erzählen in einer Zeit und Situation, da alles das entbehrt und umso sehnlicher erträumt wurde.

Geschichten aus dem Prag nach dem Krieg: Da bleibt natürlich Milan Kunderas „Leichtigkeit des Seins“ unvergesslich für die Zeit des Prager Frühlings. Ebenso lässt sich aber wiederum in Bildern lesen – zum Beispiel in den Fotografien der Prager Fotokünstlerin Dagmar Hochova (1926-2012) die auf eindrucksvolle Weise den Eigensinn von Kindern der 1950er und 1960er Jahre zu würdigen versteht und damit auf ihre Weise viele Geschichten des rebellischen Widerstands gegen Enge und Unterdrückung erzählt (www.youtube.com/watch?v=MWvFB9Vfg6Y)

Und ein ähnlich liebevoller Blick auf die Autonomie der kindlichen Fantasie ist auch in einem Fotokunstbuch für Kinder des 21. Jahrhunderts zu entdecken: in Adams Geschichte, gestaltet von der jungen Prager Künstlerin Dagmar Urbankova (http://baobab-books.net/en/adam-koleno).

Fragile Szenen und Momentaufnahmen, wie sie von den erwähnten Künstlerinnen und vielen Literaten in Wort und Bild gebracht wurden, sind auch an anderen Stellen von Prag lebendig: so zum Beispiel in der kaum festzuhaltenden Straßenkunst mit Glaskugel und Seifenblase, die in ihrer Vergänglichkeit und Leichtigkeit einen faszinierenden Kontrast bildet zur Dominanz der imposanten und wuchtigen Burgen und Schlösser, die das Bild der Stadt auf den ersten Blick prägen.

Am Ende der Reise schließt sich der Kreis: So wie die „Wegwarten“ nicht allein für eine Weitergabe von Literatur stehen, sondern sich mit sorgfältigen Titelblattgestaltungen ebenso der lllustrationskunst widmen, steht der letzte Tag in Prag und Böhmen ganz im Zeichen einer persönlichen Begegnung mit der Prager Künstlerin Martina Spinkova, die in den vergangenen Jahren einige Bücher und Zeitschriftenbeiträge von mir illustriert hat, ohne dass wir uns bislang persönlich begegnet sind. Für ein solches Treffen ergibt sich nun endlich eine Gelegenheit! Dabei erzählt sie nicht nur von ihren Bilderwelten, sondern vor allem von ihrem Engagement für eine mobile Hospiz-Initiative in Prag und die dazu aufgebaute öffentliche Spezialbibliothek – die größte ihrer Art zu diesem in Tschechien noch weitgehend tabuisierten Thema, die im ganzen Land über die Fernleihe genutzt und geschätzt wird. So kraftvoll, farbenfroh und lebendig, wie viele ihrer Bilder wirken, verkörpert Martina Spinkova mit ihrer ganzen Persönlichkeit und herzlichen Ausstrahlung eine Lebenshaltung, bei der Tod und Sterben nicht ängstlich verdrängt sondern bewusst angenommen und begleitet werden können. Die Bilder, die Bücher und das Engagement dieser bemerkenswerten und einzigartigen Initiative in einer kleinen Nebenstraße der Prager Neustadt gehören für mich zu den eindrucksvollsten Erlebnissen dieser Reise (http://www.spinkova.cz/?lang=de)

Susanne Brandt

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt