Kinder als Geschichtenerfinder. Janusz Korczaks Schachtelgeschichte in der Praxis

Erzählen draußen oder drinnen: Mit ganz einfachen Mitteln lassen sich inspirierende Geschichten zum Mitmachen interessant gestalten und mit der Umwelt der Kinder verbinden – vor mehr als 80 Jahren ebenso wie heute. Ein Praxisbeispiel, in Flensburg erprobt:

Schachtelgeschichten
Schachtelgeschichten, inspiriert von Janusz Korczak, Foto: www.geschwisterbuecherei.de


Sieben Schachteln – Sieben Kinder

Eine Mitmach-Geschichte frei nach einer Vorlage von Janusz Korczak*

„In einem kleinen armen Städtchen lebte ein Rebbe. Er unterrichtete im Cheder zehn arme Jungen. Arme Kinder haben kein Spielzeug, denn die Eltern können sich das nicht leisten. Die Kinder machen sich ihr Spielzeug selbst.“

So beginnt Korczaks Geschichte von den „Zehn Zündholzschachteln“, die der Rebbe seinen Schülern schenkte – dem Ruhigen, dem Faulen, dem einen für seinen Fleiß und dem anderen, um ihn zum Lernen zu ermuntern. Und in der Geschichte heißt es dann weiter:

„Nachher betrachtete jeder die Schachteln der anderen und prüfte, ob seine nicht schlechter war als die seines Kameraden. Aber nein, alle waren gleich. Über jedes Ding und über jede Angelegenheit kann man viel oder wenig sagen. Über diese zehn Schachteln könnte man ein dickes Buch schreiben…!“

Auf  jeden Fall kann man darüber viele Geschichten erzählen – so, wie es sieben Kinder in Flensburg im August zu sieben Streichholzschachteln getan haben. Kein dickes Buch, aber eine Kette von Ideen und Geschichten entlang der Zündholzschachtel-Geschichte von Janusz Korczak ist daraus entstanden.

Die nachfolgende Erzählfassung gibt die Geschichte so wieder, wie sie mit den Flensburger Kindern nach der Vorlage von Janusz Korczak (jeweils kursive Abschnitte im Text) frei weitererzählt und ergänzt wurde:

Was mit den Schachteln geschah, die der Rebbe seinen Schülern geschenkt hatte? Also: Abramek verlor seine Schachtel und damit war Schluss. Es war damit noch nicht ganz zu Ende, denn wenn einer etwas verliert, findet es ein anderer. Wenn du Zeit und Lust hast, kannst du selbst in Erfahrung bringen, wer die Schachtel von Abramek gefunden hat und was er damit getan hat. Gut möglich, dass jemand, der eine leere Schachtel findet, etwas ganz Besonderes da hinein tut, etwas Geheimes, was sonst kein anderer sehen soll. Liebe zum Beispiel. Liebe ist manchmal unsichtbar. Liebe bleibt oft lange geheim. Und das Wunderbare: Sogar eine ganz große Liebe kann in einer ganz kleinen Schachtel verborgen sein!

Was machte Dudik? Dudik schenkte die Schachtel der kleinen Schwester Ruth. Damit war es noch nicht zu Ende, denn wenn einer ein Geschenk macht, so empfängt es der andere. Und es ist klar, mit diesem Geschenk geschieht dann weiter etwas. Doch ich bin in Eile. Du aber, denk selbst drüber nach, wenn du wissen willst, was die kleine Ruth mit der Schachtel, die sie bekommen hat, machte und wie es weiterging. Vielleicht legte Ruth ein Schmuckstück in die Schachtel, einen Ring oder einen Anhänger für ihre Kette. Vielleicht tat sie aber auch was ganz Verrücktes damit:  Spagetti, ungekocht natürlich und in kleine Teile zerbrochen, passen nämlich genau so in eine Schachtel hinein. Nur muss man erst mal auf eine solche Idee kommen!

Szajke bekam auch eine Schachtel. Er ging hinaus auf den Hof und fing an sich zu brüsten und zu zeigen, was er hatte: Da, schaut, die Schachtel lässt sich auf und zu machen, und oben drauf ist ein hübsches Bildchen. Aron war zu der Zeit auf dem Hof. Aron sagte:

 „Die Schachtel? Lächerlich. Irgendein Gelump. Das soll was Großartiges sein. Vielleicht einen Grosz wert oder nicht mal das. Triffst Du damit bis zum Müllhaufen?“ Wenn Du Zeit und Lust hast, denk selber drüber nach, was ihm Szajke geantwortet hat, wie sie sich gestritten haben, wie sie sich geprügelt haben, wie einer dem anderen die Schachtel weggerissen hat. Vermutlich hat es nicht lange gedauert, und die Schachtel war kaputt. So schnell kann eine kleine Schachtelgeschichte zu Ende gehen.

Was machte Icek? Icek bekam auch eine Schachtel. Icek liebte Bonbons, und Fiszel hatte gerade ein Bonbon, also sagte Icek zu ihm: „Gib mir das Bonbon, ich gebe dir die Schachtel.“ Wenn Du Lust hast, stell dir vor, was Fiszel darauf sagte:  In Ordnung, sagte er und ließ sich damit ein auf den Tausch.  Und weil Icek ein schlauer Junge war, versuchte er für den Bonbon ein noch größeres Stück Schokolade zu bekommen. Und für die Schokolade? Dafür bekam er sogar einen lebendigen Vogel! Eine kleine Schachtel gegen einen lebendigen Vogel, der einem jeden Tag etwas vorsingen kann – das ist doch wirklich ein ziemlich schlauer Tausch!

Und dann war da noch Szmulek. Szmulek hatte eine Schwester Blumka, und sie hatte viele Freundinnen und verschiedene hübsche „Sachen“. Es gibt auf der Welt wichtige und unwichtige „Sachen“. Die einen Sachen sind für die Mädchen unentbehrlich, andere für die Buben. Szmulek guckte sich um und wählte als Tauschobjekt für die Schachtel vier „Sachen“ aus. Dann tauschte er zwei davon in andere „Sachen“ um. Dann tauschte er noch einmal. Am Ende hatte er für seine Schachtel eine Kette, ein kleines Buch, ein Spielzeug und ein kleines Lämpchen bekommen. Ja, Szmulek versteht es, Geschäfte zu machen. Er kann reden und überzeugen. Wenn er etwas sehr gern haben möchte, kannst du sicher sein, dass er es kriegt.

Und Mosiek und Srulek? Die beiden hatten zusammen zwei Zündholzschachteln und spielten mit ihnen.  So spielten sie den ganzen Sommer. Ganze zwei Monate lang. Mit ihnen spielten sämtliche Kinder von ihrem Hof und den Nachbarhöfen. Jeder steuerte zum Spiel bei, was er hatte. Rachela richtete einen Kindergarten ein. Ein anderes Kind kam auf die Idee, eine Bücherei aus Schachteln zu bauen. Langsam wuchs eine ganze Stadt heran: mit einem Traktor und vielen Autos, mit einer Straßenlaterne und vielen Tieren: Bär und Fuchs, Vogel, Ente und Schlange waren dabei. Sogar ein Krokodil durfte nicht fehlen. Aus mehreren Schachteln übereinander bauten sie ein großes Haus. Aus Knete wurden Menschen dazu gebastelt. Jacken und Hosen aus Papier waren ihre Kleider.

Dabei hatte das ganze Spiel mit nur zwei Schachteln von Mosiek und Srulek begonnen….

*Quelle der kursiv gesetzten Textabschnitte: Zehn Zündholzschachteln. In: Sämtliche Werke, Bd.13, S.200-202

Weitere Praxis-Anregungen zur Umsetzung:

Janusz Korczak erzählt die Geschichte so, dass zu jedem Abschnitt neue Ideen von den Kindern spontan entwickelt und in die Handlung eingebunden werden können. Dabei können Streichholzschachteln als Material verteilt werden und die Phantasie sinnlich anregen. Ebenso kann zu den kleinen Geschichten eine Bilderserie entstehen: Als Schachtel wird jeweils in die Mitte eines Zeichenblattes ein Rechteck gemalt. Die Kinder malen nun das, was in die Schachtel gepackt werden soll, in das Rechteck hinein. Oder sie malen andere Dinge hinzu, die zusammen mit der Schachtel etwas Neues ergeben.

Solche Weitermal-Bilder können anschließend zu einem großen Bilderbuch zusammengebunden oder als einzelne Bildkarten in einem Kamishibai-Rahmen präsentiert werden.

KorczakDie Geschichte „Zehn Zündholzschachteln“ ist in Auszügen auch zitiert in:

Brandt, Susanne: Gedankenflüge ohne Illusion. Janusz Korczak als Impulsgeber für die dialogische Begegnung mit Kindern beim Lesen, Erzählen und Schreiben. Mit einem Beitrag von Michael Kirchner. Wetzlar, 2010

(Leseförderung. Schriftenreihe des Zentrums für Literatur in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar; 10)

 

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt