Mit Kindern fragen, singen, erzählen und Ideen weiterspinnen – 30 Jahre Kinderrechte in Deutschland

„Kinder haben das Recht, im Krieg und auf der Flucht besonders geschützt zu werden“.

Überall auf der Welt und unabhängig von ihrer Herkunft!

Bereits 2019 wurde die 1989 beschlossene UN Kinderrechtskonvention 30 Jahre alt. In Deutschland ratifiziert wurde sie allerdings erst am 5. April 1992. Viele wichtige Hintergrundinformationen dazu gibt es hier:

30 Jahre Kinderrechte in Deutschland – das ist ein Grund mehr, sich gerade jetzt erneut darauf zu besinnen und das Thema öffentlich bewusst zu machen, aber auch in Kita und Schule aufzugreifen. Einige musisch-kreative Anregungen und Materialien, die sich in der Praxis leicht umsetzen lassen,  gibt es z.B. hier:

 

Natürlich ließe sich die Liste an Beispielen, aber auch Missständen und Anforderungen, die zu benennen wären, um die Kinderrechte immer wieder einzufordern, hier lange fortsetzen und um viele Punkte ergänzen.

Herausgegriffen werden soll an dieser Stelle nur ein Beispiel für eine an den Kinderrechten orientierte Kulturarbeit, die aktuell in Schleswig-Holstein über Bibliotheken und zahlreiche Engagierte auch Familien aus der Ukraine erreichen kann:

 

  • Geschichten schreiben – Geschichten teilen 

Die Aktion „Wir teilen Geschichten“ wurde im Frühjahr 2022 auf Initiative der Bücherpiraten in Lübeck, gefördert durch die Possehl Stiftung, gemeinsam mit der Büchereizentrale Schleswig-Holstein entwickelt und realisiert. Ziel ist es, Geschichten, die jüngere wie ältere Kinder und Jugendliche in Workshops gemeinsam entwickelt und illustriert haben, als Bücher an Familien aus der Ukraine zu verschenken – und zwar in Ukrainisch-Deutsch.

Die Familien aus der Ukraine sind vor dem Krieg in ihrem Land geflohen. Sie alle bringen ganz unterschiedliche Erfahrungen mit, kommen mit jüngeren und älteren Kindern, sind geprägt von ihrem Alltag, wie sie ihn vor dem Krieg in der Ukraine gelebt haben und haben durch Krieg und Flucht in wenigen Wochen intensive, oft verstörende und beängstigende Erlebnisse durchgemacht.

Hier in Deutschland nun fangen sie an, einen ganz anderen Alltag und eine bis dahin vielleicht fremde Sprache kennenzulernen. Zugleich aber sind sie mit ihren Gedanken bei Angehörigen, Freundinnen und Freunden, die nun von ihnen getrennt sind, spüren Sorge, Sehnsucht und Heimweh, suchen Sicherheit und finden diese auch in ihrer vertrauten Sprache.

 

  • Begegnung mit der vertrauten und unvertrauten Sprache

Deshalb werden mit der Aktion „Wir teilen Geschichten“ bewusst zweisprachige Geschichten verschenkt, die der vertrauten Sprache der Geflüchteten Achtung und Wertschätzung entgegenbringen, zugleich aber auch die Möglichkeit bieten, die Geschichten mit deutschsprachigen Menschen zu teilen.

Die vertraute Sprache vermittelt Sicherheit. Nach und nach kann dabei auch die deutsche Sprache vertrauter werden. Und umgekehrt gitl ebenso: Menschen, die bislang kaum mit Ukrainisch in Berührung gekommen sind, sehen den Text im vertrauten Deutsch nun gleichberechtigt neben einer anderen Sprache.

Und noch etwas ist wertvoll und einzigartig bei diesen Büchern:

Die Geschichten lassen sich nicht einfach irgendwo kaufen. Sie sind in einem gemeinsamen Prozess entstanden, bei dem sich Kinder und Jugendliche sehr viele Gedanken gemacht haben. Sie haben eigene Ideen eingebracht, miteinander darüber diskutiert, manches wieder verworfen, neu ausprobiert, umgebaut, in Worte und Bilder gefasst. Sie haben mit Menschen darüber gesprochen, die schon häufiger Geschichten und Bilder erdacht und zu Papier gebracht haben, konnten mit ihnen Erfahrungen austauschen – und haben am Ende entschieden, dass die jeweilige Geschichte so sein soll, wie sie jetzt ist.

Wir können respektieren und darauf vertrauen, dass es viele gute Gründe dafür gibt

„Alle Kinder sind Dichter, denn ein Dichter – das ist ein Mensch, der starke Gefühle hat, der heftig liebt und sich heftig erzürnt, der ein starkes Wollen hat und ein starkes Nichtwollen

Janusz Korczak (SW 14,135)

Je intensiver sich Lesende und Hörende mit den Geschichten beschäftigen, desto mehr erschließt sich davon. Denn eines gilt für Geschichten von Kindern, die wie hier mit großer Sorgfalt und Ausdruckskraft erschaffen worden sind, ganz besonders:

Sie mögen auf den ersten Blick vielleicht bizarr und skurril, dramatisch, emotional, erstaunlich ernst und dann wieder verrückt und humorvoll  erscheinen – eben weil sie nicht von Erwachsenen glattgekämmt und auf eine vorgefasste Moral hin „zurechtgeschrieben“ worden sind.

Gerade mit ihrer außerordentlichen Gefühlsstärke können sie Kinder anders erreichen als Erwachsene und in besonderer Weise als Audruck von Solidarität erfahrbar werden:

„Es ist angenehm, zu lesen, dass ein anderer ebenso denkt, ebenso fühlt, dass andere auch traurig sind, glauben, träumen und streben“

Janusz Korczak (SW 14,570)

Frühjahr 2022 – das ist nicht nur die Zeit von Pandemie, Krieg und Flucht. Das heißt eben auch: Vor 30 Jahren wurde in Deutschland die Kinderrechtskonvention ratifiziert.

Diese besagt u.a., dass Kinder ein Recht haben, sich künstlerisch auszudrücken, zu sagen, was sie denken und bei Fragen, von denen sie betroffen sind, mitzubestimmen. Ein Recht auf Bildung und auf Schutz und Fürsorge bei Krieg und Flucht gehört ebenso dazu.

Dazu gehören auch die Gedanken des polnischen Kinderarztes und Pädagogen Janusz Korczak, der bereits vor mehr als 100 Jahren erste Grundrechte für Kinder formulierte und damit als ein wichtiger Wegbereiter für die spätere Kinderrechtskonvention anzusehen ist.

Gerade auch für das Erzählen und Schreiben von Geschichten hat er im Zusammenleben mit Kindern wesentliche Erfahrungen und Gedanken gesammelt und formuliert, die bis heute und ganz besonders auch für diese Aktion nicht an Aktualität verloren haben (s. Zitate in diesem Text).

In diesem Sinne gilt nun die Einladung:

Lasst euch ein auf die Geschichten der Kinder. Traut ihnen etwas zu. Teilt sie mit anderen, teilt Zeit miteinander und spinnt weiter an den Fäden, die die Kinder uns mit ihren Geschichten zuwerfen…

„Immer, wenn du ein Buch aus der Hand legst und beginnst, den Faden eigener Gedanken zu spinnen, hat das Buch sein angestrebtes Ziel erreicht“

Janusz Korczak (SW 4,10)

 

Alle Materialien und Infos zur Aktion “Wir teilen Geschichten”:

https://zukunftsbibliotheken-sh.de/start/blog/puzzleteile-im-chaos-bilingual-picturebooks-in-ukrainisch.html

https://zukunftsbibliotheken-sh.de/start/blog/wir-teilen-geschichten-mehrsprachig-von-kindern-fuer-kinder.html

https://zukunftsbibliotheken-sh.de/start/blog/freiraum-fuer-geschichten-30-jahre-kinderrechte-in-deutschland.html

 

Auch interessant zum Thema:

https://waldworte.eu/2021/11/14/hoere-zu-was-kinder-erzaehlen-kinderrechte-lese-und-erzaehlfoerderung-im-dialog/

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt