Reisen heißt: Begegnung mit wechselnden Deutungen und Perspektiven für das Lebendige in uns und um uns herum. Denn wenn wir reisen, kann das Unbekannte Wege finden, um bei uns anzukommen.
Zwei Tage auf Entdeckungsreise in Thüringen: Wenn man ohne genauen Plan und ohne Reiseführer unterwegs ist, stößt man zuweilen auf überraschende Pfade und Querverbindungen – inspiriert durch das, was sich aus dem Augenblick ergibt…
Oder um es gleich in der Poesie des Erfurter Mystikers Meister Eckhart zu beschreiben: “Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht, und das wichtigste Werk ist immer die Liebe.”
Begegnet ist mir in Thüringen vor allem die Frage nach der Schöpfung – in der Natur wie in dem, was davon in Kunst, Kultur, vor allem aber in den Menschen selbst lebendig und spürbar ist…
In Erfurt nahm dieses Spüren mit einer Wanderung auf dem malerischen Lutherweg entlang der Gera seinen Anfang, führte direkt in die Altstadt und dort zu den Wirkstätten von Meister Eckhart wie auch zu der interaktiven Theateraufführung “Adam und Eva” des Theaters Frau Seibt im Rahmen des Erfurter Theatersommers unter der Regie von Harald Richter.
Ich geriet also hinein in die Spannung zwischen zwei Deutungsweisen im Blick auf Schöpfung und Paradies, die als mittelalterliche Mystik auf der einen und spielerische Neuinszenierung auf der anderen Seite erst mal wenig Verbindendes vermuten ließen. Doch das änderte sich….
Schöpfung ist bei Meister Eckhart das, was jederzeit geschieht. Schaffen und Bewahren, männliche und weibliche Anteile gehören für ihn im andauernden Schöpfungsgeschehen untrennbar zusammen.
Von diesen Gedanken lässt sich in dem Theaterstück einiges wiederfinden – mit Augenzwinkern und hintergründigem Humor zum Ausdruck gebracht: Das Leben der Geschöpfe erfüllt sich in der Beweglichkeit und Verantwortung der Lebendigen selbst, in ihrer Demut vor den eigenen Grenzen, ihrer Gelassenheit wie in ihrem Begehren.
Das Theaterstück spielt dabei auf groteske Weise mit einer Schöpfungstheologie, bei der Gott wie ein Handwerker etwas macht und den Menschen wie ein Erzieher Anweisungen und Verbote erteilt – um dieses Bild am Ende völlig anders aufzulösen: Denn hier in dem Bühnenstück wie bei Meister Eckhart (wenn auch in unterschiedlichen Bildern und Sprachweisen) geht es um das „Ganz-Mensch-werden“ – und das lässt sich nicht “machen”, sondern nur erfahren und wagen.
Dabei kommt das Publikum nicht drumrum, sich persönlich einzubringen in das Spiel mit Brüchen, Irritationen und Neuentdeckungen. In einer bis heute andauernden Schöpfung dauert auch das Hinterfragen und Weiterwachsen an, sei es nun religiös, philosophisch oder künstlerisch motiviert. Gut so!
Diese Fragen lassen sich in Weimar, der zweiten Station der Reise, mit anderen “Begleitern” weiterdenken – mit dem Bauhaus-Künstler Paul Klee zum Beispiel.
Ihm widmet das Bauhaus-Museum wichtige Facetten der Ausstellung.
Kunst ist bei Klee nicht ein Mittel zur Abbildung der Wirklichkeit. Auch er spricht von einer Art Schöpfungsakt, wenn es um das Wesen der Kunst geht. Kunst gibt – so Klee – nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.
Der Maler sucht also in seiner Kunst – wie Meister Eckhart und die Theaterleute auf jeweils ihre Art – die Auseinandersetzung mit dem Schöpfungsgedanken, nimmt das andauernde Schöpfungsgeschehen in seinem Leben und in der Natur wahr und macht etwas davon in einem schöpferischen Akt sichtbar, ohne das Erkannte abzubilden. Der vielschichtig zu interpretierende “Wasserpark im Herbst” mit seiner reichen Symbolsprache ist ein Beispiel dafür.
Klees Schülerin Alma Siedhoff-Buscher entwickelt aus Ihrer Beziehung zum Schöpferischen eine neue Art der Spielzeuggestaltung. In dieser lässt sie sich nicht von pädagogischen Überlegungen wie bei den Fröbel- und Pestalozzispielen leiten, sondern von einer inneren Freude und Sehnsucht, die sie bei sich wie in den Kindern erahnt. Das weitet den Gestaltungsraum, den sie Kindern durch lustvolle und ästhetisch anregende Materialerfahrungen bietet und weckt Visionen für das, was werden kann.
In Weimars verträumten Landschaftsparks, die zu ausgedehnten Wanderungen einladen, sind aber auch die umgekehrten Wege reizvoll und inspirierend: von der Kunst zurück in die Natur mit ihrer gewachsenen Bildsprache – vielleicht zurück zur Anfangsfrage, zu Adam und Eva, Mann und Frau.
Welcher von den vielen großen Bäumen in und um Weimar könnte besser davon erzählen als der von Goethe und anderen so oft bedichtete Ginkgo, zu dem er in einer Strophe fragt:
Ist es ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt ? Sind es zwey, die sich erlesen, Daß man sie als eines kennt ?Es ist das Märchen vom Weltenbaum, das (nicht nur) in Weimar mit dem Ginkgo-Mythos verbunden ist – und wie in der Vorstellung vom Paradies einen Baum als lebendigen Ort für die Frage nach Menschwerdung, Mann und Frau in den Mittelpunkt stellt:
“Der Weltenbaum war ein Baum, auf dem die Menschen wuchsen.
Sie waren vereint, zusammengewachsen.
Ein großer Sturm erschütterte den Baum bis in die Wurzeln und
ließ die Menschen herabfallen. Dabei trennten sie sich in Mann und Frau. Seither müssen sich bis in alle Ewigkeit suchen und finden.” Die Blätter des uralten Baumes mit ihrer markanten Form erzählen bis heute davon…
Das Suchen und Finden also scheint tief im Wesen der Schöpfung verwurzelt, das Fragen und Entdecken bleibt Annäherung, unvollständig wie die Schöpfung selbst, immer wieder neu und überraschend – wenn die Zeit dafür gekommen ist. Beim Reisen zum Beispiel.
Susanne Brandt, September 2013