Das Buch ist längst vergriffen. Aber Bibliotheken und Antiquariate haben es noch! Und wenn ein (Kinder-)Buch viele Jahre so lebendig und präsent bleibt im Lese-Gedächtnis, dann muss etwas dran sein. Dann bleibt etwas dran.
Dann ist es gut, ab und zu daran zu erinnern:
Manchmal, so erzählt das Buch, manchmal liegen die Nöte der Großen und der Kleinen gar nicht so weit auseinander: Das Kind im kleinen gelben Haus und der Mann im hohen weißen Haus finden nachts keinen Schlaf. Sie haben Angst, Angst vor der Dunkelheit, denn „im Dunkeln hat niemand ein Gesicht. Und wer kein Gesicht hat, den kennt man nicht.“ Zum Glück aber lernen die beiden sich irgendwann kennen, das Kind und der Mann. Sie teilen miteinander ihre Angst und sie teilen Geschichten und Gedichte. Das ist noch nicht die Lösung ihres Problems, aber das ist ein Anfang: „Wenn zwei sich zusammen freuen, wird die Freude größer und wenn zwei sich zusammen fürchten, wird die Furcht kleiner.“ Bald schon kommen die Engel mit ins Spiel, ganz unpathetisch, ohne religiöse „Aufdringlichkeit“, auf den „Flügeln der Poesie“ sozusagen. Sie scheinen einfach da zu sein, waren vielleicht schon immer da, nur fehlten bislang die Worte dafür. Bei solchen Engeln hebt sogar die Nacht ihre dunkle Decke ein Stück, um das Unbekannte mit Farben, Bewegung, Konturen, Formen und Gedanken langsam, ganz langsam fassbarer und vertrauter werden zu lassen. Und ganz wichtig: Die Engel haben Namen, Namen wie Brennesselengel, Möwenengel, Neinengel. So heißen keine niedlichen und harmlosen „Wird-schon-wieder-werden-Versprecher“. So heißen Wesen, die unscheinbar und besonnen, aber auch widerständig und tollkühn sein können – und gerade deshalb so heilsam sind. Auch im Bedrohlichen kann etwas Engelhaftes stecken, mit dem sich das Schwere leichter tragen lässt. Durch ihre eigensinnigen Wesensarten lassen sie sich benennen – beim Namen rufen! Die Gedichte, mit denen die Engel jeweils vorgestellt werden, geben ihnen ein Gesicht. Wer solche Begleiter im Sinn hat, empfindet die Finsternis nicht mehr komplett gesichtslos. Wie gesagt: Das ist ein Anfang – der Anfang einer Geschichte, die auf der letzten Seite des Buches beginnt.
Schon beim ersten Lesen und Betrachten vor etwa 7 Jahren hat mich dieses eigenwillige und außergewöhnliche Buch deutlicher angesprochen und fasziniert als viele andere. Dann habe ich die Autorin Jutta Richter dafür gewinnen können, das Buch persönlich in einer Förderschule vorzustellen, um mit Kindern und Jugendlichen in besonderen Lebenssituationen dem Geheimnis der Geschichte nachzuspüren. Und schließlich konnte ich einer älteren Dame mit dem Buch eine besondere Freude machen. Drei besondere Erfahrungen mit einem kleinen Buch!
Wenn es Gedichte und Liedverse gibt, die sich wie ein unverlierbarer Schatz im Gedächtnis einnisten wollen, um an guten wie an schlechten Tagen „einfach da zu sein“, dann gehören die Engelsgedichte dieses Buches dazu. Vielleicht sind es sogar die Engel selbst, die da mit jedem Blättern in Bewegung kommen. Oder anders gesagt: Vielleicht sind Engel nicht mehr und nicht weniger als beflügelte Worte, die den Ängsten und Hoffnungen Namen und Gesichter geben. Alles scheint möglich – mit diesem wunderbaren Buch! Jutta Richter: An einem großen stillen See. München, 2003