Praxis-Tipp: Waldmärchen-Werkstatt

Es war einmal ein Märchen. Als 2006 zum 100. Todestag des Dichters und Vogelforschers Heinrich Seidel (1842-1906) hier und da die Geschichten und Gedichte des Autors wieder in Erinnerung kamen, schlüpfte auch sein Naturmärchen vom Zwergenwald in ein etwas aufgefrischtes Gewand. Es ist bekannt, dass Seidel vor allem das lebendige Miteinander von Natur und Fantasie suchte – und die Lektüre von Märchen aller Art liebte. Das spätere Niederschreiben der draußen entdeckten Geschichten erlebte er eher als mühsam.

Kinder erproben das Geschichtenerfinden

Wenn es also in Bibliothek oder Schule um Seidel und seine Geschichten geht, dann stellt sich ganz im Sinne des Autors zunächst die Frage, wo und wie Geschichten ihren Anfang nehmen und an Gestalt gewinnen. Eine Antwort darauf wird erfahrbar in der praktischen Werkstattarbeit, bei der jedes Kind das Geschichtenerfinden selbst erproben kann und so nicht zuletzt zum Lesen und Schreiben motiviert wird.
Bald war aus dieser Überlegung heraus die Idee für eine Maerchenkette als inspirierendes Arbeitsblatt für eine Geschichtenwerkstatt mit Kindern im Grundschulalter geboren, die bis heute fast 400 Kinder in verschiedenen Orten der Bundesrepublik beim Erfinden eigener Geschichten ermutigt und begleitet hat – und das keineswegs nur in Verbindung mit Heinrich Seidel und seinem „Zwergenwald“.

Anregung zum freien Sprechen und Erzählen
Aus der anfangs immer wieder kopierten Skizze ist inzwischen ein grafisch gestalteter und farbig gedruckter „Schmuckbogen“ geworden, der den Kindern sichere Orientierungspunkte für ihre Ideen bietet. Die aufgereihten Perlen als Bildelemente schlagen eine Brücke zu den Perlen im Zwergenmärchen, machen aber zugleich ganz unabhängig von diesem inhaltlichen Bezug sichtbar: Wenn wir Märchen und Geschichten lesen, hören, frei erzählen oder erinnern, dann läuft vor unserem inneren Auge eine Kette von Bildern ab, die uns durch die Handlung tragen. Genau diese Erfahrung wird mit der „Märchenzauberperlenkette“ aufgegriffen und so spielerisch und ästhetisch vertieft, dass Kinder zum freien Sprechen und Erzählen angeregt werden und darüber leichter den Weg zum Lesen finden.

Kreative Arbeit mit Sprache und Geschichten
Die „Märchenzauberperlenkette“ nennt fünf wichtige Fragen, die den Spannungsverlauf des Märchens vom Zwergenwald bestimmen, ebenso aber auch auf andere bekannte Märchen (z.B. „Dornröschen“ oder „Die sieben Raben“) zu übertragen sind. An diesen Fragen lässt sich zunächst die Struktur eines zuvor vielleicht gehörten oder gelesenen Märchens gemeinsam nachvollziehen. In einem zweiten Schritt werden die Kinder dann selbst kreativ: Es gilt nun, sich mit Hilfe der Vorlage eine ganz neue Geschichte auszudenken. Dabei regt jede „Fragenperle“ dazu an, den Fortgang der Geschichte über einzelne Stationen zu entwickeln, die dann in der jeweils nachfolgenden leeren Perle als Bild oder mit wenigen Worten skizziert werden. Ziel ist es, einzelne Bilder auf diesem Wege als schlüssige Handlung zu verknüpfen. Die Kette hilft, eine Grundidee spannend zu entfalten und Zusammenhänge zwischen einzelnen Szenen zu erkennen. Jüngere Kinder, die noch nicht in der Lage sind, längere Aufsätze schriftlich auszuformulieren, können so bereits mit wenigen Worten und vor allem mit gemalten Szenenbildern zu dem Erfolgserlebnis einer selbst entwickelten Geschichte kommen. Dank der farbig ausgestalteten Kette entsteht auch optisch eine „runde Sache“ und ein sicheres „Geländer“ für das mündliche Erzählen. Ältere Kinder nutzen die gestaltete Kette oft als Gliederung, um die Geschichte nicht nur mündlich vorzustellen, sondern anschließend auch als Aufsatz zu Papier zu bringen und vorzulesen. So wird die Arbeit mit der Märchenzauberperlenkette Kindern mit unterschiedlichem Leistungsstand gerecht. Sie nimmt durch die grafischen und inhaltlichen Hilfestellungen die Angst vor dem „leeren Blatt“ und zeigt jedem Kind angemessene Möglichkeiten der Mitgestaltung auf. Dem Bild der Perle kommt schließlich noch eine weitere Bedeutung zu: Die Kinder erfahren für sich und für ihre Arbeit eine besondere Wertschätzung, wenn ihre Bildzeichen und Wörter im Rahmen einer Perle zu kleinen „Kostbarkeiten“ werden. Das wirkt sich spürbar motivierend auf die kreative Arbeit mit Sprache und Geschichten aus.

Arbeitsblätter für die Geschichtenwerkstatt
Wer bei Geschichtenwerkstätten in Bibliothek oder Schule die „Perlenketten-Methode“ anwenden möchte, kann die farbig gedruckten Arbeitsblätter aus stabilem Kartonpapier DIN A 3 in der benötigten Anzahl oder in Klassenstärke zum Selbstkostenpreis beziehen, was die Vorbereitungen für ein etwa 60- bis 90-minütiges Werkstattangebot sehr erleichtert. Als weiteres Material sind dann nur noch Schreib- oder Malstifte zu stellen bzw. von den Kindern mitzubringen – und schon beginnt die „Märchenzauberei“.
Literaturnachweis:
Seidel, Heinrich
Was im Zwergenwald geschah
Neu erzählt von Susanne Brandt
Papenburg, 2006
ISBN 978-3-938500-04-0

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt