International Nature Journaling Week 2023: Ulmensamen lieben & Schnittlauchblüten genießen

Ulmensamen? Wenn die im Sommer durchs Fenster wehen und sich in alle Ecken des Hauses verkrümeln, war das für mich bislang eher ein Fall für den Staubsauger. Jetzt ist das anders. Seit ich versucht habe, ihre filigrane Struktur zu zeichnen, bringen sie mich erstmal zum Staunen – diese zarten Flugkünstler mit dem Potential für einen riesigen Baum.

So ist das bei Nature Journaling: Man lernt das genaue Hinschauen, gerade im Alltäglichen. Denn auch die gezeichneten und geschriebenen Notizen solcher Beobachtungen suchen im Alltäglichen  ihren Platz – nicht im Atelier und nicht als Hobby- oder Sonntagsmalerei zum Zeitvertreib oder zur künstlerischen Selbstoptimierung.

Die International Nature Journaling Week 2023 vom 1.-7. Juni war für mich erstmals eine Gelegenheit, das bewusst eine Woche lang im Alltag auszuprobieren mit den dazu weltweit geteilten Impulsen und Inspirationen. Jeder Tag war dabei einer Sinneswahrnehmung gewidmet – eine Herausforderung, um sich auch für das zu öffnen, was vielleicht nicht durch eine besondere Gestalt ins Auge sticht.

Einen Blick in mein persönliches Skizzenbuch, das in dieser Woche entstanden ist, gibt es hier;

Skizzenbuch 2023 International Nature Journaling Week

Fragen nachgehen mit dem Zeichenstift

Geschmack und Duft im alltäglichen Umfeld zeichnen und beschreiben? Das geht und macht Tag für Tag wie in der Rückschau auf die gesamte Woche die Vielfalt bewusst, die zu unserem Leben gehört. Wichtige Begleiterinnen dabei: die Fragen. Denn die kommen ganz von allein: Ist das wirklich das Rotkehlchen, das da so singt? Welche Rose wird sich aus dieser kugelrunden Knospenform entfalten? Und: Dürfen die Schnittlauchblüten in den Salat? Aber ja, sie schmecken sogar noch besser als die grünen Halme. Trotzdem ist es gut, nicht gleich zu viele abzuschneiden. Denn auch für die Bienen und Hummeln ist es ein Fest, wenn Schnittlauch blühen darf.

So beginnt der naturkundliche und ökologische Lernprozess bei Nature Journaling meistens durch überraschende Entdeckungen und hilft dabei, sich nach und nach neue Erkenntnisse zu erschließen.

Ähnlich entwickelt sich der Lernprozess beim Zeichnen und Schreiben als angewandte Kulturtechnik in diesem Prozess: Ich muss nicht erst einen Kurs besuchen und es kommt nicht darauf an, bestimmte Techniken zu beherrschen, verbunden mit einer besonderen Ausstattung und Anschaffung diverser Hilfsmittel. Nein, Nature Journaling beginnt genau richtig und vollwertig mit dem ersten Bleistiftstrich, mit dem ersten Wort auf einem Blatt Papier draußen in der Natur. Beides passt in eine Hosentasche und ist vermutlich in jedem Haushalt zu finden.

Einfach anfangen

Einfach beginnen mit dem, was da ist – so meine Empfehlung. Das gilt auch für das kostbare Gut Zeit: 10 Minuten beim Warten auf den Bus können ein Anfang sein. Oder die Mittagspause im Park. Oder der stille Tagesausklang im Garten. Da nicht erst ein Arbeitstisch eingerichtet werden muss, kann man jederzeit und überall sofort „ins Zeichnen kommen“. Das ist für mich auch der Grund, weshalb ich mit Buntstiften arbeite, die sofort einsatzbereit sind und es erlauben, das Notizbuch nach kurzer Zeit wieder zuzuklappen, weil die Mittagspause vorbei ist.

Aber auch das muss nicht immer so bleiben. Das Ausprobieren mit verschiedenen Maltechniken und Materialien entwickelt sich nach und nach aus dem Tun heraus. Die Diskussion um richtig oder falsch hat bei Nature Journaling keine laute Stimme. Was jeder und jede für sich persönlich als stimmig herausfindet, ist so in Ordnung und zugleich beweglich genug, um sich zu verändern – nicht mit ehrgeizigen Zielen, sondern mit dem Bewusstsein der immerwährenden Verwandlung in der Welt. Ich erlebe die kollegiale Offenheit in den internationalen NJ-Foren als sehr angenehm. Im Mittelpunkt steht dabei spürbar die gemeinsame Freude an der biologischen Vielfalt der Entdeckungen und die solidarische Bereitschaft, Tipps und Erfahrungen großzügig zu teilen.

Ein Kreislauf: Material aus der Natur für Notizen von der Natur

Gekauft habe ich mir dann nach dem ersten Ausprobieren doch etwas: ein Notizbuch aus Graspapier, hergestellt aus landwirtschaftlichen Reststoffen, regional und fair. Ich mag daran nicht nur die Ökobilanz, sondern auch die Oberflächenstruktur und Tönung, auf der gerade Farbstifte einen besonders guten Abrieb mit natürlich wirkender Grundierung und Leuchtkraft haben.

Auch bei der Wahl der Stifte ist das ein Aspekt für mich: Buntstifte verbrauchen sich praktisch ohne Restabfall. Was ich da ins Heft geschrieben habe, kann irgendwann wieder komplett in den ökologischen Kreislauf zurückkehren. Eine interessante und dynamische Vorstellung.

Was noch zum Lernprozess der International Nature Journal Week gehört: die internationale Dimension mit täglichen Eindrücken und Perspektiven von Menschen aus anderen Ländern, die sich in anderer Umgebung gerade zu den gleichen Themen Gedanken machen.
Auch wenn sich mit dem Zeichenstift nicht “die Welt retten lässt” – es hilft mir zu wissen, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die sich achtsam, staunend und wertschätzend ihrer Umgebung zuwenden. Das soll und darf nicht von den bleibenden Herausforderungen ablenken, die andere Lösungen fordern, aber das stärkt die gemeinsame Hoffnung und hält den Mut zum Engagement wach.

Zum Weiterlesen und -lernen: www.naturejournalingweek.com

 

Susanne Brandt

 

 

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt