Mit „hörendem Herzen“ ringen, hoffen, handeln

Wissenschaftliche Fakten anerkennen und diskutieren, eindringliche Stimmen aus dem globalen Süden einbeziehen, Raum und Zeit geben für Gespräche zwischen der „Letzten Generation“ und Menschen aus Politik und Industrie, immer wieder die Frage: Welchen Druck aus der Zivilgesellschaft braucht und verträgt Demokratie, damit Entscheidungen mutiger und schneller getroffen und umgesetzt werden? Und in allem: „hörende Herzen“ statt Spaltung und Empörungsmodus.

Intensiver und deutlicher als in den Jahren zuvor ließ sich für mich bei diesem Kirchentag erleben, dass das geht: der derzeit oft so aggressiv angeheizten Polarisierung und Spaltung in der Gesellschaft kritisch und konstruktiv etwas entgegensetzen. Vertreterinnen und Vertreter aus Protestbewegungen, aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kirchen und Politik sind zusammengekommen, haben ihre Gesprächsbereitschaft und Offenheit für andere Stimmen und Meinungen mitgebracht und sind vermutlich alle mit ein paar neuen Denkanstößen aus den Runden in ihre Wirkungsbereiche zurückgekehrt. Mit ihnen im Austausch: Tausende Menschen aller Generationen in den voll besetzten Hallen, die ihre eigenen Fragen mit einbringen und zu vielen Themen auch über Resolutionen abstimmen konnten. 


Kirchentag – das ist eine zivilgesellschaftliche Laienbewegung, seit Jahrzehnten immer auch mit deutlichen politischen und gesellschaftlichen Impulsen, die hier in einem konstruktiven Austausch Gehör bekommen. Und da die aktuellen Themen – Klima, Frieden, Gerechtigkeit, Demokratie, gesellschaftliche Spaltung – dabei so komplex sind, habe ich mich in diesem Jahr an zwei Tagen auf einen Themenbereich mit vier Foren und drei Resolutionen beschränkt – Stoff genug für viele weitere Gespräche am Rande des Kirchentages und diverse Möglichkeiten, das Diskutierte mit Büchern und Beiträgen dazu  weiter zu vertiefen.

Mit Bildern im Sinn und mit Sehnsucht im Herzen stell ich mir vor: So könnte es sein.“ 

So heißt es im Refrain eines neu entstandenen Liedes, vertont von Bernhard Kießig (Liederheft Nr.7), mit dem ich mich in einer Werkstatt an den Vorbereitungen für den Kirchentag beteiligt hatte und das hier nun – und auch weiterhin anderswo – gemeinsam gesungen werden kann.

Denn das Ringen, Hoffen und Handeln kommt nicht aus ohne Visionen. Diese aber kommen nur dann wirklich zur Entfaltung, wenn sie sich mit Menschen und ihren verschiedenen Vorstellungen und Möglichkeiten des Mitwirkens auseinandersetzen, bewegen lassen und verbinden. 

In diesem Kontext nicht zu vergessen: Auch die Erd-Charta  als zivilgesellschaftlich erarbeitete Vision verweist auf viele der hier angesprochenen Impulse, wenn sie z.B. unter IV/14 Kunst und Kultur als wichtige Aspekte von Bildung hervorhebt und in der Version für Jugendliche beschreibt: “Wir brauchen Fantasie, um einen Lebensstil zu entwickeln, der umweltfreundlich und friedlich ist. Die kulturelle Vielfalt auf der Erde ist ein Schatz, in jeder Kultur gibt es alte Träume und neue Ideen, die uns weiterbringen.” 

So könnte es sein, ist die Hoffnung, die durch den Kirchentag eine spürbare Stärkung erfährt, um sich im Alltag zu bewähren.

Ein Überblick in Stichworten:

 

1. Klimakrise begrenzen – Global gerecht?

Impuls: Dr. Kira Vinke, Leiterin Zentrum für Klima und Außenpolitik, Berlin

Buch-Tipp: Kira Vinke: Sturmnomaden, 2022

Weitere Podiumsteilnehmende: 

  • James Bhagwan, Pfarrer, Suva/Fidschi
  • Vanessa Nakate, Klimaaktivistin, Kampala/Uganda
  • Dr. Dagmar Pruin, Präsidentin Brot für die Welt und Diakonie Katastrophenhilfe, Berlin
  • Frank Schwabe MdB, Bundesentwicklungsministerium, Berlin
  • Resolution Schuldenerlass:

https://static.kirchentag.de/production/htdocs/fileadmin/user_upload/staatsschulden_und_klimakrise.pdf

Stichworte:

  • Zerreißprobe zwischen Druck und Demokratie
  • Der Verschuldung ärmerer Länder steht gegenüber: Wir verschulden uns mit unseren Umweltlasten noch massiver und folgenreicher bei den armen Ländern  (Vinke)
  • Wir brauchen deutliche zivilgesellschaftliche Stimmen für globale Gerechtigkeit

 

2. Freiheit in planetaren Grenzen – wie viele Regeln braucht der Klimaschutz?

Impuls: Till Kellerhoff, Programmdirektor Club of Rome, Winterthur/Schweiz

Buch-Tipp: Club of Rome (Hrsg.): Earth for all, 2022

Weitere Podiumsteilnehmende: 

Sven Giegold, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Berlin

Dr. Ruth Gütter, Oberkirchenrätin, Referentin für Nachhaltigkeit Ev. Kirche in Deutschland (EKD), Kassel

Prof. Dr. Christoph M. Schmidt, Präsident RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, Essen

Moderation: 

Stefan Wolff, Journalist, Frankfurt/Main

  • Resolution: Gemeinwohlorientierte Verpachtungen von Kirchenland

https://www.kirchentag.de/fileadmin/allgemein/durchfuehrung/resolutionen/resolution_gemeinwohlverpachtung.pdf
 

Zum Impuls von Till Kellerhoff: 

50 Jahre nach dem erste Bericht an den Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) blicken renommierte Wissenschaftler*innen wie Jørgen Randers, Sandrine Dixson-Declève und Johan Rockström abermals in die Zukunft.
Sie beschreiben vor dem Hintergrund des Ist-Standes eine politische Gebrauchsanweisung für fünf wesentliche Handlungsfelder, in denen mit vergleichbar kleinen Weichenstellungen große Veränderungen erreicht werden können – auch dann, wenn die 17 Ziele bis 2030 im vollen Umfang unerreichbar scheinen. 

Die dabei von ihnen identifizierten Aufgaben bündeln das Engagement…
• gegen die Armut im globalen Süden,
• gegen grassierende Ungleichheit,
• für eine regenerative und naturverträgliche Landwirtschaft,
• für eine umfassende Energiewende,
• für die Gleichstellung der Frauen. 

Die daraus sich entwickelnde Diskussion stellt die Frage nach den Chancen und Grenzen demokratischer Veränderungsprozesse, insbesondere auf EU-Ebene. Sind Kompromisse und Übergangslösungen akzeptabel, wenn sie auf dem Weg einer weiter gedachten Transformation vorübergehend unumgänglich scheinen? Und ganz aktuell: Wenn die EU mit Mehrheitsentscheidungen wie jetzt zum aktuellen Asylgesetz humanitäre und globale Anliegen mit großer Dringlichkeit für die Zukunft verhindert statt ermöglicht – welche zivilgesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten lassen sich dann nutzen?

 

3. Wer hat’s verbockt? Und was machen wir jetzt? Verantwortung und Schuld in der Klimakrise

Impulse:  Dr. Robert Habeck MdB, Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Berlin

Carla Hinrichs, Klimaaktivistin der Letzten Generation, Augsburg

Weitere Podiumsteilnehmende: 

Dr. Christiane Averbeck, Geschäftsführende Vorständin Klima-Allianz Deutschland, Berlin

Prof. Dr. Anita Engels, Soziologin, Hamburg

Joe Kaeser, Aufsichtsratsvorsitzender Siemens Energy und Daimler Truck, München

Mona Neubaur MdL, Wirtschaftsministerin, Düsseldorf

Moderation: Franziska Holzschuh, Journalistin, Nürnberg

Resolution: Pariser Klimavertrag umsetzen

https://static.kirchentag.de/production/htdocs/fileadmin/user_upload/pariser_klimavertrag.pdf

Mehr zur Veranstaltung:

https://www.kirchentag.de/meldungen/donnerstag/wer-hats-verbockt

Stichworte und Stimmen, die miteinander ausdiskutiert wurden:

  • Schuldfrage „Wer hat es verbockt?“ lässt sich nicht individualisieren, hier: Verweis auf Bonhoeffer und die Erfahrung, nicht schuldfrei durchs Leben zu kommen: „Wer sich in der Verantwortung der Schuld entziehen will, löst sich aus der letzten Wirklichkeit des menschlichen Daseins,“
  • Wir brauchen Orte und Gelegenheiten für einen fairen Diskurs und wir brauchen Medien, die diesen Diskurs abbilden und fördern, um sich der Ambivalenz zu stellen und gleich
  • Populismus setzt auf Spaltung und die Verhinderung von Lösungsansätzen
  • Carla Hinrichs: „Wir sind der Feueralarm, der so richtig auf die Nerven gehen muss, damit Menschen anfangen zu retten und zu löschen“
  • Gegenrede: Problem ist multikausal und kann nur mit einer differenzierten Therapie beantwortet werden (Käser)
  • Unspezifische Protestformen tragen eher zur Spaltung als zur Verständigung bei,  „Fridays for Future“ hat dagegen etwas bewegt
  • Leider verstellt die polarisierende Diskussion um die „Letzte Generation“, was die Klima Allianz bereits alles erreicht hat
  • Ja, wir sind schuldig (Demut) und ja, wir können eine Menge verändern (Mut)
  • Stimme der Soziologin Anita Engels (s. Studie zum sozialen Wandel): ernüchterndes Ergebnis der Chance auf Transformation 
  • Verursachungsfrage muss geklärt werden, bevor die Schuld- und Verantwortungsfrage gestellt wird. Bei vielen Unternehmensstrategien ist viel Greenwashing dabei, noch nicht gelöst ist die politische Auseinandersetzung mit den Superreichen, bei denen ein enormes Einsparpotential wäre
  • Es braucht Druck von der Zivilgesellschaft auf die Politik und von der Politik auf die Unternehmen
  • Fazit: Was gegen Ohnmachtsgefühle hilft: Hoffnung in Handeln verwandeln

 

4. Wir müssen die Demokratie umbauen. Die Frage ist nur: Wie?

Impuls: Markus Beckedahl, Aktivist und Gründer Netzpolitik.org, Berlin

Weitere Podiumsteilnehmende: 

Nicola Beer MdEP, Vizepräsidentin Europäisches Parlament, Brüssel/Belgien

Annika Gramoll, Ev. Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung, Berlin

Prof. Dr. Hartmut Rosa, Soziologe, Jena

Moderation:  Dr. Annika Schreiter, Studienleiterin politische Jugendbildung Ev. Akademie Thüringen, Neudietendorf

Stichworte:

  • politische Kultur muss sich mehr für echte Partizipation öffnen und verändern
  • Polarisierung schadet der Demokratie, gleichzeitig aber wird sie durch manche Medien und Netze gezielt angetrieben, um Aufmerksamkeit zu schaffen und zu lenken
  • Der Empörungs-Modus verdrängt das hörende Herz (Empathie)
  • Wir brauchen politische außerschulische Bildung, in der Menschen Selbstwirksamkeit erfahren.
  • Wie können empathische Aushandlungsprozesse gelingen und beginnen?
  • Beteiligung an demokratischen Prozessen in der Rolle der Staatsbürger u d Staatsbürgerinnen, nicht nur aus Privatinteresse heraus
  • Demokratie braucht eine Gemeinwohlkultur, die über verschiedene Meinungen hinaus trägt  

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt