Sonntagmorgengebet
„Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute nacht geschah es zum erstenmal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, -sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.“
(aus: Etty Hillesum: Das denkende Herz, S.149)
Es sind schlimme Zeiten – für Etty Hillesum und unzählige andere Menschen in Zeiten des Krieges, der Verfolgung, der Todesangst vor 80 Jahren.
Es sind schlimme Zeiten – auch an diesem Sonntag. Und morgen. Ganz anders als damals. Wer will vergleichen, relativieren, bemessen das menschliche Leid?
Es sind schlimme Zeiten – und wir leiden an unserer Hilflosigkeit, wollen so viel und können so wenig ausrichten. Suchen Worte. Üben Gesten. Schenken Nähe. Versuchen dich zu retten, Gott. In uns. In anderen.
Immerhin.
Sonntagmorgen im Februar 2022
Vor mir liegt das Buch „Mystik und Widerstand“ von Dorothee Sölle. Seit 25 Jahren steht es in meinem Bücherregal. Oft genutzt. Manchmal auch vergessen. Heute schlage ich es mal wieder auf, lese eine Passage daraus vor – bei einem Vortrag zur Frauenmystik.
Gerade heute – zwischen den beunruhigenden Nachrichten am Morgen und der Friedensdemo am Nachmittag. Wäre es jetzt nicht wichtiger, die Berichterstattung weiter zu verfolgen und andere Themen zurückzustellen? Soll ich mich beeilen, um gleich nach der Tagung noch rechtzeitig dabei zu sein, wenn sich viele versammeln, um Widerstand zu zeigen gegen diesen Krieg?
Was soll ich tun? Was kann ich verändern? Was mache ich hier mit meinem „Stillen Geschrei“, wie Dorothee Sölle ihr Buch so treffend betitelt hat?
Ich lese: Staunen, Loslassen und Widerstehen – das ist die Reisebeschreibung, auch für schlimme Zeiten.
Denn das Staunen bedeutet nicht nur Glück, sondern auch ein Entsetzen, das sprachlos macht. Zugleich ist es der Anfang für neue Sichtweisen. Die werden wir brauchen!
Dann das Loslassen – oder besser gesagt: die genau Wahrnehmung, die dazu gehört. Was berührt mich, was blockiert mich und was lasse ich nicht an mich heran? Es gilt, das Unterscheiden zu lernen: zu spüren, was noch fehlt, zu lassen, was mich abhält vom Wesentlichen. Keine leichte Etappe. Oft dunkel. Manchmal lange im Nebel.
Und schließlich: ein Widerstehen, das bei Dorothee Sölle auch Heilen heißt – im Sinne einer Wandlung von innen her. Mit Auswirkung auf die Welt um mich herum. Befreit und verbunden. Immer auch politisch.
Also nochmal die Frage: Was tue ich hier, wenn ich von Mystik und Widerstand erzähle? Wenn ich Menschen zuhöre, zögernd nach Antworten suche, schweige, mitfühle, ermutige, bete?
Ich gehe los. Staunend…
Susanne Brandt