Der jährlich am 21. Mai begangene “Welttag der kulturellen Vielfalt für Dialog und Entwicklung” soll das öffentliche Bewusstsein für kulturelle Vielfalt stärken, wie es in der Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt von der UNESCO-Generalkonferenz 2001 vereinbart worden ist. „Als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität ist kulturelle Vielfalt für die Menschheit ebenso wichtig wie die biologische Vielfalt für die Natur.“, heißt es in Art. 1 der Erklärung. Und Art. 7 ergänzt: „Kreativität ergibt sich aus den Wurzeln kultureller Tradition, aber sie kann sich nur im Kontakt mit anderen Kulturen entfalten.“
Do one thing… – z.B. “Märchen interkulturell entdecken und mehrsprachig erleben”
Um diese facettenreiche „Allgemeinen Erklärung“ an einem Praxisthema zu konkretisieren, wird hier in diesem Jahr das Märchen mit seiner vielfältigen weltweiten Erzählkultur in den Blick gerückt und als Anregung zum Dialog, zur Kreativität wie zur interkulturellen und mehrsprachigen Begegnung betrachtet. Denn verschiedene Erfahrungen mit Märchen im interkulturellen Austausch haben mein Interesse und meine Verbundenheit mit dem Thema in letzter Zeit intensiviert und farbiger werden lassen.
Erfahrung Nr.1: Auf Schatzsuche nach vertrauten Geschichten
Seit Februar treffe ich mich in der Bibliothek wöchentlich zu einem „Dialog in Deutsch“ mit einem Mann aus Afghanistan. Wir lernen voneinander. Wir teilen einander etwas von unseren so unterschiedlichen Sprachen und Lebenserfahrungen mit und wir tun das gelegentlich auch am Beispiel von kurzen Fabeln und Märchen, die beim gemeinsamen Lesen und Erzählen das Vertrautwerden mit der deutschen Sprache unterstützen. Aber die Geschichten bewirken noch etwas anderes: Im Dialog zu den Geschichten erfahre ich, dass einige davon in persischer Sprache ihren festen Platz in afghanischen Schulbüchern haben und als solche eine Brücke des Verstehens und des Vertrauens schlagen können über Sprach- und Ländergrenzen hinweg. Ich fange an, nachzufragen und zu recherchieren: Wo gibt es in der langen Überlieferungstradition dieser Geschichten gemeinsame Wurzeln oder Berührungspunkte? Und wie drücken sich in verschiedenen Varianten, Interpretationen und Erzählweisen der Geschichten Unterschiede und Ähnlichkeiten im Verständnis der Botschaft für das Leben hier wie anderswo aus? Neue Ideen werden beflügelt: Wie lässt sich dieser gemeinsame „Geschichtenschatz“ nutzen, um hier mit Menschen aus verschiedenen Ländern das Vertraute mit der neuen Sprache spielerisch und kreativ zu verbinden?
Erfahrung Nr.2: Lesen öffnet Türen zu elementaren Bildern
Das Goethe Institut konnte in den vergangenen Wochen mit Unterstützung der Japan Art Association vielen Büchereien in Deutschland eine Auswahl von 21 deutschen Kinder- und Jugendbüchern in arabischer Übersetzung kostenfrei zur Verfügung stellen. Unter dem Motto „Lesen öffnet Türen – Bücher auf Arabisch für Kinder“ stellt das Buchpaket ein Angebot dar, geflüchtete Kinder- und Jugendliche zu unterstützen. Zu den Publikationen gehören verschiedene Tiergeschichten, Märchen und Romane, aber auch Sachbücher.
Das Besondere bei diesem Projekt: Weil es nicht allein damit getan ist, arabische Bücher einfach ins Regal zu stellen, veranstaltet das Goethe Institut in Kooperation mit dem Deutschen Bibliotheksverband, seinen Kommissionen „Interkulturelle Bibliotheksarbeit“ und „Kinder- und Jugendbibliothek“ und einzelnen GastreferentInnen passend zu dem Buchgeschenk einen (bereits ausgebuchten!) bundesweiten Praxisworkshop in Berlin, bei dem verschiedene Spielarten im kreativen Umgang mit den arabischen Büchern in deutschen Büchereien gemeinsam erprobt und Erfahrungen dazu ausgetauscht werden.
Was mich dabei besonders beschäftigt und nachdenken lässt: das Thema „Märchen machen Mut“. Denn auch eine kleine Sammlung mit Grimms Märchen in arabischer Sprache gehört zu dem verschenkten Buchpaket und wird in Berlin vor allem über Schlüsselbegriffe, elementare Bilder und Symbole mehrsprachige Zugänge öffnen.
Erfahrung Nr. 3: Das Kamishibai Erzähltheater öffnet seine Türen für Märchen
Begegnungen, Erlebnisse und Nachforschungen, die mich nach den interkulturellen Bezügen von Märchen und Fabeln fragen lassen, sind in den vergangenen Monaten vermehrt eingeflossen in die Arbeit mit Märchen im Kamishibai Erzähltheater. Denn das bildgestützte Vorlesen und Erzählen bei dieser weltweit tradierten Vermittlungsform erweist sich gerade für mehrsprachige Gruppen als besonders anregend und geeignet.
Lernen können wir dabei von der nigerianischen Geschichtenerzählerin Chimamanda Ngozi Adichie: Sie erzählt und verbreitet Märchen und Geschichten, um nicht in die „Gefahr einer einzigen Geschichte“ zu geraten. Denn für ein Leben in Vielfalt brauchen wir eine Vielfalt an Märchen und Geschichten, die uns zeigen, wie wir Vertrautes und Fremdes, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Alltag wertschätzen und teilen können. In diesem Sinne bietet das gemeinsame Entdecken und Kennenlernen von Märchen, Geschichten und Bildern mit dem Kamisibai die Chance der Inklusion, wenn alle Kinder und Familien sich einbezogen fühlen und Freude daran haben können – die Geflohenen und Zugewanderten ebenso wie jene, die schon lange oder immer hier leben.
Vieles davon konnte nun aufgenommen werden in das Buch „Deutsch lernen mit Bildern und Geschichten“, das im Juli 2016 mit zahlreichen Märchenbeispielen erscheint. Auch dazu passende Bildkartensätze werden folgen…
Mehr zum Thema “Kamishibai” im interkulturellen Kontext:
Interkulturelle Begegnung durch “erzählende Bilder”
https://www.mein-kamishibai.de/zweisprachig-wissen-teilen
Märchen in “leichter Sprache” zu Bildern erzählen
Bleibt zum Abschluss ein kurzer Ausflug in die weltweite Überlieferungsgeschichte des Märchens, bei dem vielleicht etwas erkennbar wird von den historischen Wurzeln der oben beschriebenen Erfahrungen.
Am wichtigsten aber bleiben mir persönlich die Flügel, mit denen Märchen im interkulturellen Dialog beweglich bleiben und über Barrieren hinweg helfen.
Zum Weiterlesen: Märchen weltweit als persönlicher Reisebericht http://waldworte.eu/2014/03/30/mit-geschichten-aus-17-landern-im-gepack-unterwegs-reisenotizen-zum-internationalen-kinderbuchtag/
Kleiner Exkurs: Ausflug in die weltweite Märchengeschichte
Märchenhafte Erzählungen und Überlieferungen sind aus allen Völkern und Kulturen bekannt. Für viele Motive lassen sich internationale Wiederholungen und Parallelen ausmachen, was mit gemeinsamen Traditionen und gegenseitiger Einflussnahme zu begründen ist. Manche Volksmärchen sind auf der Basis sehr viel älterer Mythen entstanden. „Frau Holle“ z.B. geht vermutlich auf die Verehrung einer vorchristlichen Gottheit zurück.
In ihrer ältesten bekannten Form stammen Volksmärchen aus dem Orient. Von dort aus gelangten sie bereits vor 1000 n. Chr. ins Abendland. Dabei gab es über lange Zeiträume nur die mündliche Tradierung mit anonymer Herkunft. Ähnliche Wechselwirkungen lassen sich – z.T. noch sehr viel früher – auch für die Tradierung von Fabeln feststellen. Erst seit sich im Mittelalter vermehrt Möglichkeiten schriftlicher Überlieferung entwickelten, werden Märchen unterschiedlicher Herkunft auch niedergeschrieben und nehmen Einfluss auf literarische Weiterentwicklungen und Übersetzungen. So entstand um 1450 die älteste erhaltene arabische Sammlung von „1001 Nacht“, die sogenannte „Galland-Handschrift“ (nach ihrem Entdecker Antoine Galland, 1646-1715). Er beförderte mit seiner Übersetzung ins Französische (1704/08) die europäische Rezeption der orientalischen Märchen.
Charles Perrault (1628-1703) wiederum sorgte 1698 durch seine Märchensammlung „Contes des Fées“ (Feenerzählungen) für eine wachsende Popularität von Märchen in Frankreich und in ganz Europa, was später auch für die Gebrüder Grimm von Bedeutung war. Denn ihre „Kinder- und Hausmärchen“ aus dem Jahr 1812 hatten in dieser Form keineswegs in der mündlichen Überlieferung durch das „einfache Volk“ ihren einzigen und maßgeblichen Ursprung. In ihnen verbinden sich vielfältige Erzähltraditionen aus der ganzen Welt, die nun mit jeder gedruckten Auflage überarbeitet, teilweise verharmlost und der christlichen Moral angepasst wurden. Um dem Geschmack des meist bürgerlichen Publikums Rechnung zu tragen und sie auch als für Kinder geeignet erscheinen zu lassen, wurden zahlreiche Details geändert. Entscheidend für den anhaltenden Erfolg der Sammlung war vor allem die Ausgabe von 1825, bei der sich Wilhelm Grimm mehr am Deutsch der Lutherbibel orientierte.
Susanne Brandt