Was geht? Oder auch: Wie geht’s? So wird im Podcast des Instituts KMM an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg immer wieder gefragt und dazu mit wechselnden Interviewpartnerinnen und -partnern die Situation von Kultur in Zeiten von Corona aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
https://wiegehts-kultur.de/blog/
Gastgeber Martin Zierold möchte in Telefongesprächen erfahren: Worüber denken Menschen nach, wenn in Kultur- und Bildungsstätten nicht das geplante Programm laufen kann? Woran wird jetzt gearbeitet? Was fehlt und was wird vielleicht überraschend möglich, wenn man auf einmal über alles neu nachdenken kann und muss? Und nicht zuletzt auch: wie steht es mit der digitalen Transformation? Der Podcast lenkt die Aufmerksamkeit nicht auf die Bühne, sondern lässt bewusst hinter die Kulissen von Kunst und Kultur schauen.
So auch beim Gespräch mit Hartmut Rosa im September 2021, aus dem nachfolgend die wichtigsten Gedanken aufgegriffen und entfaltet werden.
Anders „in der Welt sein“
Wer Hartmut Rosa kennt, der ahnt es schon: Sein Thema im Kontext der Pandemie ist die gesellschaftliche Zeiterfahrung, eine Entschleunigung, die nicht einfach als Verlangsamung zu verstehen ist, sondern als eine andere Haltung, eine Art, „in der Welt zu sein“ und „in Beziehung zu treten“.
Resonanz erfahren – das bedeutet in diesem Sinne: berührt und angesprochen werden, darauf reagieren und sich verändern lassen, und zwar in einem Prozess, der sich organisch entwickelt, überraschende und unverfügbare Momente beinhaltet und sich als solcher nicht machen oder einem Leistungsziel unterordnen lässt.
Nicht zu verwechseln ist eine solche Haltung mit der so inflationär beschworenen Achtsamkeit: Während diese einen subjektiven Zustand meint und von einer eher verengten Individualisierung geprägt ist, meint Resonanz immer ein Beziehungsgeschehen, weist also über die eigene Befindlichkeit hinaus bis hin in eine politische Dimension. Und schließt auch Formen der Distanz und Auseinandersetzung in einer Beziehung mit ein.
Warum Ambivalenzen und Unsicherheit so verstörend wirken
Wenn nun gesellschaftliche Konflikte – wie aktuell – so massiv und z.T. verstörend zutage treten, stellt sich die Frage: Wo liegen die tieferen Ursachen für diese vermehrt wahrnehmbare „Grundwut“? Und geht es dabei auch um Resonanz und Weltbeziehung bzw. um den Mangel an solchen Erfahrungen?
Hartmut Rosa gibt hier zu bedenken, dass in der Bildung, im Kulturbetrieb, aber ebenso in anderen Bereichen wie z.B. in der Pflege die Messbarkeit und die Orientierung an Leistungszielen und Wettbewerb enorm an Dominanz gewonnen haben.
Und eben das, so lässt sich weiterdenken, kann unter dem Eindruck von Ambivalenzen, Unsicherheiten und oft verschlungenen Wegen durch die Krise umso mehr zu Irritationen, Brüchen und Kränkungen führen.
Was wäre, wenn in Bildung und Kultur, in Pflege und Fürsorge wieder mehr Zeit und Raum da wären für eine tiefere Beziehung zu den Inhalten, zu ethischen und sozialen Anliegen bei der Arbeit – auch wenn sich solche Beziehungserfahrungen nicht als „Erfolg“ und „Gewinn“ verbuchen ließen?
Kunst entsteht durch das Gehen von Umwegen
Am Ende führt uns Rosa als Bild – frei nach Hans Blumenberg – vor Augen, dass Kunst durch das Gehen von Umwegen entsteht. Denn Kreativität geht verloren, wenn wir Wege – auch digital – verkürzen wollen. Gerade das Unvorhersehbare, die zufällige Interaktion ohne vorherige Ziel- und Zweckerwartung öffnet besondere Möglichkeiten für das Schöpferische und Neue – besonders unter den so schwer planbaren, mitunter irritierenden und ungewohnten Bedingungen einer Pandemie.
Ganz praktisch im Alltag heißt das für Hartmut Rosa auch: Warum nicht einfach mehr zu Fuß gehen – und zwar nicht leistungsorientiert, auf Selbstoptimierung ausgerichtet, sondern mit sensiblen Antennen für alles, was einem dabei auch überraschend begegnen kann?
Diese so beziehungsreiche Chance, sich zu Fuß in der Welt zu bewegen (sofern keine körperlichen Einschränkungen das Gehen schwer oder unmöglich machen), offenbart wie keine andere Fortbewegungsart eine erstaunliche Weite und Freiheit in alle Richtungen.
Auf den Punkt gebracht: Gehen ist die beste Weise, dafür zu sorgen, dass es einem besser geht – und damit auch der Welt, in der man sich bewegt. Denn auch wenn man ohne Begleitung geht, so geht man doch nie für sich allein, sondern in Resonanz mit dem Lebendigen, das einem dabei begegnet. Das löst nicht alle Probleme, aber das bringt etwas in Bewegung. Schritt für Schritt. Tag für Tag. Manchmal auf Umwegen. Ende offen…
Susanne Brandt