Sonntagsmomente: Jahreslaufbewegung

Rund 1600 km Fußweg und 7 Monate liegen zwischen diesen beiden Fotos: derselbe Ort, derselbe Baum – aber ganz unterschiedlich sind die Facetten, die das „Leben dazwischen” prägen.

Nein, ich bin nicht von Flensburg bis nach Florenz gewandert (auch wenn ich das sehr gern mal tun würde!). Verreist war ich in den vergangenen Monaten kaum. Auch der Urlaub ist bislang deutlich kürzer ausgefallen als sonst. Ich bin „in der Nähe” geblieben – gerade weil ich Abstandsregeln derzeit für wichtig halte. Um der Menschen willen und für das Lebendige, was uns verbindet.

Die rund 1600 km, die ich seit dem Frühjahrs-Lockdown zu Fuß gegangen bin, haben mich einfach durch den Alltag geführt. Mit seinen schwierigen wie mit seinen beglückenden Begegnungen und Momenten. Meistens so um die 8 bis 10 km täglich, manchmal mehr, manchmal weniger. Wir leben zwar gerade in einer Zeit der Zahlen und der Bemessungen. Aber für mich sind Quantitäten nicht das Entscheidende.

Wichtiger ist mir die Qualität des Unterwegsseins „in der Nähe” – auf dem Weg ins Büro oder einfach in den Wäldern und Naturräumen der Nordstadt. Der So-Li-Park mit seinen kostbaren Baumbeständen gehört zu eben diesem Quartier wie die bunten oder tristen Altbauten, die alteingesessenen oder zugewanderten Nachbarinnen und Nachbarn, der Strand und das Meer…

Was sich gerade in der Wiederholung der vertrauten Wege entdecken lässt: die Schönheit im Wechsel der Jahreszeiten, die wachsende Vertrautheit mit den Vorbeigehenden, das Licht, das mit dem wandernden Sonnenstand so manche Dinge plötzlich überraschend anders erscheinen lässt. Und die täglich spürbare Veränderungsenergie: ein Impuls, ein nächster Schritt, ein Ziel vor Augen, ein berührender Augenblick mit anderen Menschen…

Nein, ich bin “Corona” nicht dankbar für diese Erfahrungen! Ich bin dankbar für die Geduld, für das Staunen, für die Inspiration und Freiheit, für Freundlichkeit und Ermutigungen, die mich bei meinen Runden so zuverlässig begleiten. Im Kreis gehen – das muss nicht in die Frustration führen. Der Baum im Jahreslauf erzählt dazu seine ganz eigene Geschichte mit wechselnden Gewändern. Davon lerne ich, wachse, kann vielleicht etwas weitergeben…

Sollte mich später mal jemand fragen, wie ich die „Corona-Zeit” erlebt habe, dann werde ich vermutlich sagen: als eine sehr bewegte und bewegende Zeit. Als eine Zeit, in der mir die Qualität von Nähe und Umsicht viel intensiver und bewusster als bisher wichtig geworden ist – im Räumlichen wie im Zwischenmenschlichen. Mit tausenden von Schritten und Zäsuren. Mit Blätterwirbel und Regentropfen auf der Brille. Mit tiefen Seufzern und hohen Tönen beim Vor-sich-hin-Singen auf dem Weg entlang der Hafenmauer. Mit neuen Ideen, die im Stillen keimen und in der Bewegung an Kraft gewinnen. Mit mehr Briefen als sonst und den kleinen Festen mit ganz Wenigen im Freien.

Wir alle wissen nicht, wie dieses Jahr zuende geht. Vielleicht liegt schon in ein paar Wochen der erste Schnee auf den dicken Baumwurzeln. Es wird sich etwas verändern…auf dem Weg zwischen Sorge und Hoffnung.

Susanne Brandt (Gedanken zu Corona im November)

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt