Was bewirken Geschichten? Sie sind Geschwister der Intuition und Ermutigungen in ausweglos scheinenden Situationen. Denn mit der Kraft der Fantasie und Imagination öffnen Geschichten den Blick für das Unvermutete und erweitern die begrenzte Realität um die Dimension des Möglichkeitssinns.
Der Psychotherapeut Nossrat Peseschkian sieht in transkulturellen Geschichten ein bedeutsames Potential für positive Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Umweltverhalten. Doch nicht zu vergessen: Zunächst mal sprechen Geschichten in einer Sprache, die Kinder unmittelbar erreicht und ihren Sinn für das Spielerische und Wunderbare, für Gerechtigkeit und für die Hoffnung auf ein gutes Ende anspricht.
Wer Geschichten alles das zutraut und offen dafür ist, sie mit einer solchen Haltung der Hoffnung zu erzählen, findet dafür in dem Buch “Ich habe meine Märchen mitgebracht” eine bemerkenswerte Fundgrube an Märchen, Geschichten, Liedern und Spielideen. Julia Erche und Alexander Jansen haben sie bei Menschen aus West- und Ostafrika, aus arabischen Ländern und dem persischen Kulturkreis gesammelt. Sie haben den Schatz, den Kinder und Jugendliche, Männer und Frauen ihnen anvertraut haben, behutsam bearbeitet und legen offen, wie und warum sie manches vielleicht ein bisschen anders weitererzählen als nach dem Original.
Sie trauen den überlieferten Quellen jene Lebendigkeit zu, die sie immer hatten und weiterhin haben werden: beweglich und veränderbar, von Mund zu Mund weitererzählt, variiert, ergänzt um neue Spiel- und Klangelemente. Zu allem findet der Künstler Maneis eine feine Balance, um Motive aus dem Erzählten in seinen Illustrationen aufzugreifen und den eigenen Bildvorstellungen der Kinder damit Inspiration zu geben – aber keine engen Vorgaben. Die Ränder seiner Aquarelle verlaufen ins Offene. Hier bleibt Freiraum zum Fantasieren.
So ist das Anliegen des erfahrenen Autoren-Teams pädagogisch, künstlerisch, mitunter auch therapeutisch begründet. Immer geht es ihnen um eine gute Einfühlung in die so verschiedenen Lebenssituationen der Kinder. Ihnen wollen sie mit den Geschichten begegnen, immer wieder eine Chance bieten, auch eigene Ideen in die Geschichten hinein zu legen. Die Musik mit der eigenen Stimme wie mit Instrumenten tritt als verbindendes Element hinzu und ist auf der beigefügten CD zu hören.
Für mich liegt die besondere Stärke des Buches in der gelungenen Auswahl der Märchen und Erzählungen (von denen einige deutliche Parallelen zu bekannten europäischen Märchen aufweisen) und den dazu formulierten Anmerkungen. Sie geben Einblick in die jeweilige Herkunft und regen für das eigene Erzählen ein Nachdenken darüber an, wie und warum der eine oder andere Text Bearbeitungen erfahren hat. Angaben mit Altersempfehlung, Intention, Thema und evtl. Materialbedarf erleichtern in der Praxis den schnellen Überblick. Doch zu schnell sollte man sich nicht durch dieses Buch bewegen. Jede Geschichte braucht ihren eigenen Klang- und Entfaltungsraum in der Begegnung mit Kindern. Und Zeit.
Susanne Brandt
Julia Erche / Alexander Jansen: Ich habe meine Märchen mitgebracht. Geschichten, Lieder und Spiele von Flüchtlingskindern. Illustriert von Maneis. Don Bosco Verlag, 2018 (inkl. CD)