Die alten Geschichten von dem, was möglich bleibt…

Manchmal finden die Dinge und Gedanken seltsam zueinander: An einem Tag, an dem die Medien sich mit Schreckensmeldungen überschlagen, dass einem in der Wiederholung der unsäglichen Aussagen und Ereignisse fast die Fantasie abhanden kommen kann für jede andere Geschichte und Vision – da landete auf meinem Schreibtisch ein Buch zur Rezension, das mir mit seinem sperrigen Titel “Christsein im Imperium” erstmal wenig Freude verheißen mochte. Zu groß und machtvoll schienen mir die Worte, um von einer “anderen Welt” zu träumen, wie es der Untertitel andeutet.

http://universitaetskirche.de/2016/12/christsein-im-imperium-lesung-und-debatte-mit-renate-wind/

Der Blick ins Buch offenbarte dann aber schnell: Die Autorin Renate Wind wählt ihre Worte mit Bedacht statt mit Macht – und weiß um die andere Wirkung jener Geschichten aus biblischen Überlieferungen, die so alt sind, dass sie bereits eine lange und widerständige Geschichte mit herrschenden und vergehenden Imperien überlebt haben.

Eine ihrer jesuanisch begründeten Botschaften lautet: Eine andere Welt ist möglich, wenn wir beginnen, sie zu leben. Eine andere Welt leben (und nicht mit Macht beherrschen!) – das geschieht nach ihrer Interpretation im Geist einer solidarischen Freiheit als Gegenkultur zum Imperium.

Der Versuch, davon etwas lebendig zu verwirklichen, zieht sich trotz aller Verirrungen in vielfältiger Form durch die Geschichte. Er geht einher mit einem Perspektivwechsel: mit dem Mut zu glauben und zu bekennen, dass das Heil der Welt nicht in einem weiteren siegreichen Machthaber beschlossen liegt, sondern in einem Abschied von einem Kampf um Macht hin zu einer Basisbewegung, die nicht der Logik von Gewalt und Gegengewalt folgt, sondern dem alten Traum vom Ende der Menschenmacht über Menschen.

Menschenmacht über Menschen, das heißt heute und das hieß schon zu früheren Zeiten: Ausgrenzen, unterdrücken, groß werden durch klein machen, schamlos durchsetzen, was im Interessen von Wenigen steht und für sich beanspruchen, das ohne Einfühlung in die Bedürfnisse der Schwächeren tun zu dürfen. Dabei zeigt die Sehnsucht nach Freiheit ihr doppeltes Gesicht:

Freiheit FÜR alles, was vorrangig eigenen oder fremden (Macht-)Ansprüchen dient, kann niemals zur Freiheit VON Unrecht und Unterdrückung führen – das ist der alte und immer wieder neu in Schwung gebrachte Teufelskreis.

Was davon in den Machtgesten der “(Möchte-gern-)Großen” zur Schau getragen wird, findet weniger plakativ auch in manchen alltäglich gewordenen Selbstoptimierungs-Ritualen allerlei Ausprägungen, die ihre Macht darin zeigen, dass sie sich auf ein Recht stützen, nach dem es legitim scheint, die eigene Leistung wie ein Privileg zu nutzen und vorrangig für das einzusetzen, was das eigene Wohl und Werden voran bringt.

Alte und neue Geschichten, die von einer anderen Welt erzählen, schöpfen aus einem reichen Schatz an Bildern, die etwas anderes zu beschreiben suchen:  Bilder für Zärtlichkeit und Solidarität, für Mitgefühl und Gerechtigkeit, für Scheitern, Zerbrechlichkeit und Neuanfang – wieder und wieder.

Herausfordernd und ermutigend bleibt: Die Geschichten und Bilder brauchen Menschen, die davon etwas lebendig werden lassen und weitertragen. Das geht nicht immer leicht, aber das geht trotzdem immer und überall. Und keine Macht der Welt hat an dieser täglichen Möglichkeit bislang etwas ändern können…

Susanne Brandt

Ein Nachtrag zum Thema vom 05.02.2017:

Ein längeres Interview mit Navid Kermani brachte heute einige Aspekte zur Sprache, die sich gut an die oben geschriebenen Gedanken anschließen und deshalb hier nicht fehlen sollen:

So gibt er zu bedenken, ob und wie es gelingen kann, zu den schwierigen und komplexen Fragen der aktuellen Weltpolitik wieder stärker eine Erzählkultur denn eine Meinungskultur zu pflegen. In den Medien – so scheint es – haben wir uns an ein schnell wechselndes Nebeneinander und Gegeneinander von knappen Meinungssätzen gewöhnt, finden aber kaum mehr Raum und Zeit für ein Erzählen und Austauschen von Erfahrungen, von erlebten oder erträumten Geschichten, die auch die Ambivalenzen, Unsicherheiten und Vorläufigkeiten vieler Situationen mit beschreiben und benennen können. Und die vielleicht in der Lage wären, visionär über die Realität hinaus zu schauen, ungeahnte Denk- und Erfahrungsräume zu erkunden und sich für eine Transzendenz zu öffnen, die sich von Fakten, Tatsachen und Prognosen nicht vereinnahmen und kleinmachen lassen.

Auch für eine so erzählende Auseinandersetzung mit Konflikten und Herausforderungen der Menschheit bieten die alten Geschichten eindrucksvolle Beispiele…

 

Bildhinweis: Arbeit von Jugendlichen aus dem Projekt der Büchereizentrale SH „Das weiße Blatt“, entstanden bei den Bücherpiraten in Lübeck

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Flensburg oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt