Weiter Himmel über dem Stadtrand. Etty Hillesum und die Freiheit der Poesie in einer verengten Welt

BALI
Weiter Himmel über dem Stadtrand / Foto: Susanne Brandt

Der 21. März trägt als internationaler Gedenktag eine doppelte Bedeutung: als „Welttag gegen Rassismus“ wie als „Welttag der Poesie“. Für mich ein Grund, an Etty Hillesum zu erinnern – und mit ihr und ihren Tagebuchaufzeichnungen  an die Freiheit der Poesie inmitten einer rassistisch verengten Welt:

Aus Ettys Tagebuch: „Sonne auf der Veranda, ein leichter Wind weht durch den Jasmin, und zugleich ist da die Gewissheit, dass ich das Leben als schön und lebenswert empfinde. (…) Jetzt will man anscheinend durchsetzen, dass Juden die Gemüseläden nicht mehr betreten dürfen, dass sie ihre Räder abliefern müssen, die Straßenbahn nicht mehr benutzen dürfen und abends nach 8 Uhr zu Hause sein müssen. Doch heute morgen genoss ich den weiten Himmel über dem Stadtrand und atmete die frische, nicht rationierte Luft. Auch über dem einzigen Weg, der uns verblieben ist, wölbt sich der ganze Himmel. Und dieser Himmel ist in mir ebenso weit gespannt wie über mir.“

Ihr Anliegen war es,  dem erlittenen Hass nicht mit verhärteten Worten zu begegnen, sondern die Seele vor eigenen Hassgefühlen zu bewahren:

„Das größte Problem unserer Zeit ist der große Hass gegen die Deutschen. Der vergiftet das eigene Gemüt (…) Das heißt nicht, das man gegenüber gewissen Strömungen gleichgültig ist, man nimmt Stellung, entrüstet sich zu gegebener Zeit über gewisse Dinge, man versucht Einsicht zu gewinnen. (…) Mir wird immer deutlicher (…)  dass jeder Funken Hass, den wir der Welt hinzufügen, sie nur noch unwirtlicher macht, als sie ohnehin schon ist.“

Mit Respekt und Staunen über alles, was Etty Hillesum sich inmitten von Rassismus, Hass und Verfolgung bewahren konnte, nimmt das folgende Lied poetische Bilder ihrer Tagebuchaufzeichnungen auf und formt sie zu Versen gegen das Vergessen:

Noch blüht mir der Jasmin

Ich bin ganz still, doch in mir rauscht die ganze Welt:
ein klarer Fluss, ein dunkler Wald mit vielen Sternen,
und meine Seele ist wie Bergkristall und Feuer,
kann kühl und schillernd sein und doch so zärtlich wärmen.

In mir ein Brunnen, tief und gut, darin ist Gott,
und liegen Steine drauf, so will ich nach ihm graben,
hoff’, dass er auferstehen kann in allen Menschen,
die ihn mit schweren Sorgen zugeschüttet haben.

Kehrvers:
Und bleibt mir nur ein schmaler Weg,
der Himmel bleibt ganz weit und groß,
spannt sich in mir und über mir,
behütend und doch grenzenlos.

In mir, da blüht noch immer duftend der Jasmin,
er blüht für Gott an diesen stürmisch-grauen Tagen,
und auch in anderen verbirgt sich so viel Schönes,
oft sind es Zeichen, die viel mehr als Worte sagen.

In mir ist Leben und als Freund sogar der Tod,
er wird mein Dasein nicht begrenzen, sondern weiten,
allein die Angst verengt den Atemstrom des Lebens,
ich aber liebe es mit allen seinen Seiten.

Text: Susanne Brandt
(nach Tagebuchnotizen von Etty Hillesum)

Esther (Etty) Hillesum (1914-1943), holländische Jüdin, erlebte Krieg und Verfolgung zunächst als Studentin in Amsterdam, dann im Lager Westerbork. Sie starb in Auschwitz.
Ihre veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen (“Das denkende Herz”) zeigen die junge Frau als feinsinnige Mystikerin und leidenschaftlich Liebende.

Mehr Beiträge zum Thema: http://waldworte.eu/category/etty-hillesum-1914-1943/

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Lübeck oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt