Zwischen Büchern geborgen – Impressionen aus der Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei

BALI
Ein Buch, das Geschichten in sich trägt…

Seit wenigen Tagen steht ein „Buch“ der ganz besonderen Art auf meinem Schreibtisch –  handgefertigt und angenehm zu betasten aus weichem Holz. Zwischen den Seiten stecken Fotos und Karten, die Geschichten ahnen lassen, immer wieder anders, persönlich, nie so, dass damit zu viel preisgegeben wird: Bilder von lesenden Jugendlichen vor oder in der Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei in Lilienthal bei Bremen.

Ich fühle mich dem Haus und der Arbeit, die dort durch die Begleitung von Marlies Winkelheide in geschützten Räumen für und mit Geschwistern von Menschen mit Behinderung möglich ist, seit längerem verbunden. Als Zeichen dieser Verbundenheit gehört nun dieses Buch zu den besonderen „Schätzen“ in meinem Arbeitszimmer. Die Jugendlichen einer Geschwistergruppe, für die dieser Ort von besonderer Bedeutung ist, haben es mir als Päckchen zukommen lassen, vielleicht als Symbol – so wie vieles, was dort mit Büchern und Dingen geschieht, über Symbole spricht, Sinn und Botschaften vermittelt für das, was manchmal schwer in eigene Worte zu fassen ist.

BALI
In der Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei

Besonders ist die Bücherei dadurch, dass man in diesen Räumen spürt, wie eng Bücher und Begegnungen zusammen gehören. Die dicht gefüllten Regale wirken wie eine bergende warme Hülle für die gemütlichen Sitzecken und anregenden Spielmöglichkeiten, die durch Menschen mit Leben erfüllt werden. Sie gehören zu diesem Ort, machen ihn für die Geschwistergruppen, die sich mit und zwischen den Büchern treffen, zu „ihrem Ort“. Denn es geht in den Gesprächen, die hier in geschützter Atmosphäre möglich sind wie in den Büchern  um Geschichten, um viele individuelle Lebensgeschichten.

Man könnte die Bücherei als Spezialbibliothek verstehen, als die vielleicht weltweit einzige Spezialsammlung von Büchern zum Thema Geschwister, Geschwisterbeziehungen, speziell Geschwisterbeziehungen in Familien, in denen eins oder mehrere Kinder mit Behinderungen leben. Aber so, wie auch im Leben das Thema nicht isoliert von anderen sozialen und persönlichen Fragestellungen die Menschen prägt und bewegt, reicht die Auswahl der Bücher weit über das Geschwisterthema im engeren Sinne hinaus und umfasst ebenso Geschichten, Anregungen und Informationen zu Gefühlen, Körper, Sexualität, Krankheit und Tod, Glaube, Gewalt und vieles mehr.

Ich finde nicht die richtigen WorteIn ihrem kürzlich erschienenen Buch „Ich finde nicht die richtigen Worte“ (Geest-Verlag, 2014) hat Marlies Winkelheide mit eigenen Gedanken und Stimmen von Eltern und Jugendlichen Eindrücke, Erfahrungen und Fragen aus der jahrzehntelangen Arbeit mit Geschwistergruppen gesammelt und assoziativ, inspirierend, nachdenklich, fragend nebeneinander gestellt: „Es ist für mich wichtig, einen geschützten Raum zu haben, in dem man über alles reden kann, wenn man Probleme mit den Eltern oder dem Geschwisterkind hat. So ein Raum wäre beispielsweise die Geschwisterbücherei, wo ich mit Marlies schon öfter über Probleme mit meiner Familie gesprochen habe. In der Geschwisterbücherei steht außerdem sehr viel Lektüre zu verschiedenen Bereichen von Menschen mit Geschwistern mit Behinderung in verschiedenen Lebenslagen zur Verfügung, was für mich äußerst ansprechend war. Zudem ist der Raum auch sehr schön, um sich mit anderen zu unterhalten, da es ein komfortables Sofa gibt, was einen zum Miteinander reden anregt. Die Bücher sollten je nach Lebenslage geordnet werden, damit man einen guten Überblick erhält und schnellen Zugriff hat.“ (S. 76), beschreibt ein Jugendlicher dort seine Erfahrung mit der Bücherei. Und eine andere ergänzt: „Ich persönlich finde die Auswahl der Bücher immer sehr gut und habe selber schon in verschiedensten Lebenssituationen aus diesen gelernt.“ (S. 80)

Vieles, was das Leben von Geschwistern in Familien mit Menschen mit Behinderung prägt, kommt in diesem Buch zur Sprache oder sucht nach Worten –  manchmal als ein Herantasten, ein Wahrnehmen auf unterschiedliche Weise. Ein Ratgeber oder “Rezeptbuch” dafür, wie die Begleitung von Geschwistern in besonderen Lebenssituationen gelingt, kann und soll das Buch bewusst nicht sein. Die Fragen bleiben das, was der Weiterentwicklung ihren Weg und ihr Tempo lässt  – und auch ein mutiges „Ich weiß nicht“ gehört manchmal dazu. So, wie bei Janusz Korczak – aber dazu später…

Zurück zur Bücherei, an die mich das Buch als Holz nun täglich erinnern kann – und zu den Menschen, die sich dort treffen können: „Hier geht es um [die Kinder] und staunend nehmen sie zur Kenntnis , wie ernsthaft und vielfältig sich viele Autoren mit der Situation der Kinder auseinandersetzen”, schrieb ein Vater der Bücherei ins Gästebuch, Stimmen wie die hier zitierten bringen zum Ausdruck, dass die Besonderheit der Bücherei auch, jedoch nicht allein in dem speziellen Sammelauftrag für Bücher zu ausgewählten Lebensthemen liegt. Entscheidend und prägend für das, was hier geschieht, ist vor allem die Haltung, mit der sich Menschen mit und zwischen diesen Büchern begegnen: Wer mag, kann in dem thematisch sortierten Präsenzbestand stöbern, kann sich mit anderen über Gelesenes austauschen oder die Denkanstöße und Fantasien, die durch Geschichten angeregt werden, erst mal für sich behalten, in Gedanken bewegen und vielleicht irgendwann auf irgendeine Weise zum Ausdruck bringen.

Nicht zufällig trägt dieser Ort den Namen jenes Mannes, der genau dieses feine Wechselspiel, die immer wieder zu suchende Balance zwischen den Geschichten der Bücher und den Geschichten des eigenen Lebens gesucht, geschützt und beschrieben hat: Janusz Korczak.

„Es ist angenehm zu lesen, dass ein anderer ebenso denkt, ebenso fühlt, dass andere auch traurig sind, glauben, träumen und streben“, schreibt er an einer Stelle über die Wirksamkeit des Lesens zur Stärkung von Empathie füreinander wie zum Umgang mit den eigenen Gefühlen.

„Alle Kinder sind Dichter, denn ein Dichter – das ist ein Mensch, der starke Gefühle hat, der heftig liebt und sich heftig erzürnt, der ein starkes Wollen hat und ein starkes Nichtwollen,“ so heißt es bei Korczak an einer anderen Stelle.

Und wieder ist der Bezug zur Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei direkt zu erkennen: Kinder als Dichter, die gibt es an diesem Ort nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ebenso im Rahmen von zahlreichen Schreibprojekten, die hier zur Umsetzung kommen. Man könnte die Reihe von Korczak-Zitaten lange fortsetzen, in denen sich etwas ausdrückt über die Bedeutung von Büchern und die Wirkkraft des Lesens und Erzählens, der Kostbarkeit von Geheimnissen wie von geteilten Erfahrungen. An dieser Stelle soll ein letztes reichen: „Immer, wenn du ein Buch aus der Hand legst und beginnst, den Faden eigener Gedanken zu spinnen, hat das Buch sein angestrebtes Ziel erreicht.“ Ich persönlich denke, dass die Bedeutung jener Bücher, die in der Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei für viele Hände bereit stehen und unzählige Gedankenfäden ins Spiel bringen, mit kaum einem anderen Zitat treffender zu beschreiben ist. Alle hier versammelten Bücher können etwas in Gang setzen, was über die Bücher hinaus weist, aber ohne die Bücher und den Ort, den sie hier gefunden haben, vielleicht niemals so beginnen könnte.

Deshalb wünsche ich der Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei und allen, die sich dort treffen und engagieren, noch lange die Mittel und Möglichkeiten, dies auch weiterhin tun zu können. Die Janusz-Korczak-Geschwisterbücherei ist ein ganz besonderer Ort. Sie ist angewiesen auf Spenden von verschiedenen Seiten. Sie genießt die Anerkennung und Verbundenheit durch zahlreiche namenhafte Autorinnen und Autoren wie z.B. Kirsten Boie, Renate Welsh, Achim Bröger, Doris Meißner-Johannknecht, Gudrun Pausewang, Mirjam Pressler, Klaus Kordon, Josef Reding. Sie könnte auch für andere Orte ein deutliches Zeichen der Ermutigung für die besondere Bedeutung des Lesens und für die Kraft der Bücher setzen, wenn immer mehr Menschen weitererzählen und öffentlich sichtbar machen, was hier auf vergleichsweise kleinem Raum mit großem Engagement und Einfühlungsvermögen geschieht.

Weiterführende und aktuelle Informationen zur Geschwisterbücherei wie auch Spendenmöglichkeiten für den Erhalt dieser wichtigen Einrichtung beim Verein Stimme e.V. sind hier zu finden: http://www.geschwisterbuecherei.de/

Susanne Brandt

 

 

 

 

Susanne.brandt

Bedenkt und entdeckt das Leben in Flensburg oder unterwegs - am liebsten zu Fuß und in der Begegnung mit anderen. Lernt, schreibt, singt, erzählt, teilt und lässt sich jeden Tag vom Möglichen überraschen. Weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Brandt