In Liedern leben Geschichten – und Geschichte! Ihnen nachzuspüren, bleibt Annäherung, vielleicht Mutmaßung, kann sich als spannend, verstörend, irritierend und überraschend erweisen. Denn Volkslieder, die in Häusern und auf Straßen von Menschen für Menschen entstanden sind und den Weg in die Welt gefunden haben, führen mitunter ein freies und wildes Leben und lassen sich gar nicht so leicht einfangen, eindeutig be- und festschreiben mit ihren vielen verschiedenen Lesarten und Kontexten.
So auch beim Lied von den „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“, das als musikalisches Sprachspiel seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Umlauf ist und unterwegs Übertragungen in skandinavische Sprachen, in Türkisch und Hebräisch erlebt hat. Mögliche Vorläufer und Ähnlichkeiten zu Sing- und Spielformen, die aus Estland wie aus Italien und Spanien bekannt sind, tragen zur Vielschichtigkeit der Verbreitungs- und Entwicklungsgeschichte bei. Dabei lassen sich zahlreiche Variationen zur Zahl und Herkunft der Musikanten nachweisen. Nicht immer besteht die muntere Gruppe aus drei Musikanten und nicht überall kommen sie aus China…:
https://de.wikipedia.org/wiki/Drei_Chinesen_mit_dem_Kontrabass
Verschiedene Deutungen und Lesarten des Liedes
Folgt man der Theorie zu den vorrangig sprachspielerisch motivierten Variantenbildungen, wären – als eine Möglichkeit – Verbindung zum sprachspielerischen Humor der Dada-Kunst im frühen 20. Jahrhundert plausibel. Andere erkennen in dem Lied einfach die kindliche, geradezu universell in vielen Ländern und Sprachen der Welt lebendige Lust an Unsinn-Versen und Vokalklängen, die hier mit den „drei Chinesen“ jene eingängige Form, Klangkunst und Bildhaftigkeit gefunden hat, die es braucht, um mündlich eine weite Verbreitung und Variantenbildung zu finden.
So bleibt offen, ob mit dem Vokaltausch und der dabei entstehenden „Fantasiesprache“ eine gezielte Verballhornung speziell des Chinesischen gemeint sein könnte. Da diese sprachspielerische Komponente mit ihren vielen Variationen in besonderer Weise zur internationalen Popularität und Variantenbildung beigetragen hat, spricht einiges dafür, dass es bei dem Lied vor allem um die spielerische und klangliche Bedeutung von vokalreichen Begriffen wie eben „Chinesen“, „Kontrabass“ und „Polizei“ geht (in anderen Sprachen und Regionen entsprechend auch mit anderen Wörtern und Variationen im Umlauf) und nicht um eine wertende Aussage und Charakterisierung von Menschen einer bestimmten Nationalität, zumal das Bild von den drei Straßenmusikanten dafür keine eindeutigen Anhaltspunkte liefert, sondern Raum lässt für verschiedene Varianten und Interpretationen.
Aber es gibt ebenso Gründe dafür, im Text und Lied rassistische Tendenzen zu sehen. So gedeutet, unterstellt das Lied den Chinesen Kulturferne[18] und zeigt sie mit diskriminierenden Verhaltensweisen.[19][20] Das Einschreiten der Polizei ohne ersichtlichen Anlass könne als Fall von Polizei-Willkür und „Racial Profiling“ in einem Kinderlied gedeutet werden.[21][22] Der im Zweiten Weltkrieg (nach anderen Untersuchungen vermutlich schon früher) erfolgte Wechsel von „Japanesen“ zu „Chinesen“ – als das Hitler-Regime ein Bündnis mit Japan geschlossen hatte – könnte die bereits damals mit dem Lied wahrgenommene Abwertung zeigen.[21]
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Wichtig bleibt: Wenn das Lied heute dazu missbraucht wird, Menschen damit zu mobben oder lächerlich zu machen, wenn Menschen durch das Lied Missachtung und Abwertung empfinden, dann gilt es, die Ursachen, Auslöser und Mittel, die dazu führen, ernst zu nehmen. Dazu gehört auch (aber nicht allein) eine kritische Auseinandersetzung mit dem Lied – und diese wiederum, kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen:
Ein altes Lied neu eingekleidet durch Geschichten für Kamishibai
Diese und andere Überlegungen und Entdeckungen sind mir durch den Kopf gegangen bei dem Versuch, das alte Lied nicht einfach über Bord zu werfen (und damit eine konstruktive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lesarten zu verhindern!), sondern es stattdessen mit einer neuen Bildergeschichte für Kamishibai zu verbinden.
Entwickelt hat sich auf diese Weise ein Konzept für eine Geschichte, das dem vermutlich ursprünglich sprachspielerischen Charakter des Liedes gerecht werden möchte, indem…
- …das Motiv des Vokaltausches als sprachspielerisches Element in den neu dazu erzählten Szenen aufgegriffen, vorbereitet und narrativ entfaltet wird.
- …der Ursprung des Liedes in der Alltagskultur von Kindern durch Alltagsszenen mit Kindern vermittelt wird.
- …die „drei Chinesen“ für Spontanität und Freude am gemeinsamen Musizieren, für überraschende Momente im Alltag stehen und nicht für eine bestimmte Nationalität.
- …das Miteinander aller Protagonisten von Vielfalt, Lebenslust, Toleranz und Respekt geprägt ist, bei dem nicht über andere, sondern miteinander gelacht wird.
- …die „drei Chinesen“ nicht als exotische Sonderlinge ausgegrenzt oder ins Lächerliche gezogen, sondern als zwei Männer und eine Frau selbstbewusst und mutig in ihrem Auftreten dargestellt werden, die aus eigener Initiative andere Menschen zum Staunen bringen – und zum Mitmachen!
Sprachspiel und Alltagskultur vor 100 Jahren – und heute…
Denn der Ton macht die Musik und die Färbung prägt das Bild, das dabei in den Köpfen entsteht: Begibt man sich auf die Spur alter Lieder, wird deutlich, wie schillernd sie ihre Bedeutung wechseln können – je nachdem, in welchen Kontext sie gestellt und mit welchen Lesarten und Intentionen sie in Verbindung gebracht werden.
Die Rahmengeschichte, die das Lied von den „drei Chinesen“ nun mit einer bunten Szenen- und Bilderfolge für Kamishibai wiederum in einem solchen Kontext neu verortet, sucht die Anknüpfung an das Sprachspielerische und Alltägliche im Leben von ganz verschiedenen Menschen einer Stadt und erschließt so Motive, die bei seiner Entstehung vor rund 100 Jahren vielleicht eine Rolle gespielt haben mögen, neu für die gegenwärtige Singpraxis in Kindergarten, Familie und Schule.
Es bleibt dabei: In Liedern leben (ambivalente) Geschichten – bis heute…Sie laden zur konstruktiven Auseinandersetzung ein, um ein kritisches Bewusstsein nicht allein durch Vermeidung, sondern vielmehr durch ein genaues Hinschauen und Hinterfragen aus verschiedenen Blickwinkeln anzuregen und lebendig zu halten.
Weitere Positionen:
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