Wenn Dorothea Grünzweig eine Juninacht im Norden beschreibt, lässt sie den Blick wandern und hält noch die feinsten Abstufungen des Lichts fest. Und der Wechsel der Farben wird zum Wechsel der Laute:
„nacht und die linde helle des junis / das wandellicht der mitternacht / die felder steigen beginnen sich zu wellen / halme lösen das harmgrau ab”.
Dorothea Grünzweig ist eine Dichterin des Schauens. Schon in ihrem vorangegangenen Gedichtband „Glasstimmen” (2004) war sie auf der Suche nach einem Schreiben, das „frei von der Qual / des Herleitungsdenkens” sein sollte. Gleichwohl sind die Gedichte meist erzählerisch angelegt, und erst innerhalb dieser kleinen Geschichten breitet sie ihre Bilder und Wortfindungen aus, die eine Gleichzeitigkeit herstellen. Weit hinein in die Erinnerung reichen diese Verse, in Kindheitslandschaften, in die Erzählungen der Eltern und Großeltern. Oder in die Welt von Pflanzen und Tieren, denen Grünzweig eine eigene Sprache und einen eigenen Rhythmus zu leihen versucht:
„wir lassen den wörtern freien lauf / sie rennen auseinander ballen sich zusammen / und wir verwechseln / kater mit vater und durch vater kommen wir auf mutter und auf kind”.
Dabei arbeitet Grünzweig immer wieder mit kleinen Brüchen und Verschiebungen und zeigt so neben dem „klangland” auch das Stocken der Sprache.
Vor Jahren hat sich Dorothea Grünzweig, die in dem württembergischen Ort Korntal geboren wurde, in den Süden Finnlands zurückgezogen. So nimmt es nicht Wunder, dass Bilder von Eis und Schnee die Gedichte bestimmen. Von „silberflechten” und „neuschneeeulen” ist hier die Rede, vom „eismeer” und vom „glazigenen gelände”. Auch „verschollene Wörter” finden sich zwischen den Zeilen, die in wechselnden Konstellationen zu tönen beginnen.
Stets tastet Grünzweig nach der sinnlichen Seite der Sprache, das „Sehen der Wörter” will sie schon in Kindheitstagen gelernt haben. Wenn sie die „macht der finsternis” allerdings zu sehr mit „paradiesaugen” ansieht oder allzu ungebrochen von der „muttersprache” träumt, rutschen die Verse nah an Klischees heran. Störend wirkt auch der Versuch, Details der Historie mythologisch anzureichern.
Am überzeugendsten sind jene Stellen, an denen es Dorothea Grünzweig tatsächlich gelingt, eine Verbindung von Leben und Schreiben zu zeigen, die tief in die Erinnerung führt:
„wie nah doch Atmen / Singen beieinanderliegen”.
NICO BLEUTGE
DOROTHEA GRÜNZWEIG: Die Auflösung. Gedichte. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 126 Seiten, 19,90 Euro.
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